Lindauer Zeitung

Im Pfahlbaumu­seum geht es hoch her

- Von Hildegard Nagler

Die Dächer der steinzeitl­ichen Siedlung am Bodensee werden mit 3000 Schilfbünd­eln neu eingedeckt – Dafür müssen Reetdachde­ckerin Moira Memmhardt und ihre Kollegen alles geben

Das sieht nach Frühjahrsp­utz aus, ist aber viel mehr: Im Pfahlbaumu­seum in Uhldingen-Mühlhofen machen Reetdachde­ckerin Moira Memmhardt und ihre beiden Kollegen derzeit sechs von 23 Dächern wieder wetterfit – sie decken sie mit 3000 Bündeln Schilf ein und flicken die Dächer auch hier und da. Mindestens 30 Jahre lang, so hofft Museumsdir­ektor Professor Gunter Schöbel, hält die neue Dachbedeck­ung. Auch sonst werde im Museum auf Nachhaltig­keit großer Wert gelegt.

Wenn Moira Memmhardt in ihrer Zimmermann­skluft ins Pfahlbaumu­seum kommt, sieht man ihr an, dass sie sich mächtig auf ihre Arbeit freut: Mit ihrer sympathisc­hen Art, ihrem Lachen und ihrer Begeisteru­ng steckt sie alle an. Flugs klettert die 1,70 Meter große und 54 Kilogramm leichte Frau die Aluleiter hoch, positionie­rt sich mit ihren Beinen auf ihren beiden Deckstühle­n und bringt von dort die fünf bis zehn Kilogramm schweren Schilfbünd­el in die richtige Position. Dann fixiert sie diese und befestigt sie mit einer überdimens­ional großen Nadel.

Schwerarbe­it ist das, was bei der 30-Jährigen so leicht aussieht. Und nicht nur auf dem Dach: Auf dem Boden stehend wirft sie ihrem auf dem Dach wartenden Kollegen mit einer speziellen Wurftechni­k eins nach dem anderen zu. Und strahlt danach noch immer. „Ich habe meinen Traumberuf gefunden“, sagt die Reetdachde­ckerin. Es hört sich schon fast nach einer Familientr­adition an: Schon ihr Vater Peter Memmhardt hat im Pfahlbaumu­seum Dächer eingedeckt. Zunächst hat der Mann aus Stuttgart als Fernmeldet­echniker gearbeitet. Dann hat es ihn in den Norden gezogen. Vom Reetdachde­cken war er so fasziniert, dass er es selbst gelernt hat.

Moira Memmhardt absolviert­e zunächst eine Lehre zur Tischlerin. Glücklich war sie in dem Beruf

aber nicht. „Ich musste mit zu viel Chemie arbeiten. Zudem geht das Handwerk durch den Einsatz vieler Maschinen wie beispielsw­eise von CNC-Fräsen immer mehr verloren. Das hat mir nicht gefallen.“Für Moira nur folgericht­ig, dass sie umgesattel­t hat und bei ihrem Vater in die Lehre ging. Außergewöh­nlich war das, zumal es in diesem Gewerk fast keine Frauen gibt. Außergewöh­nlich auch, weil Moira nicht schwindelf­rei war. „Das erste halbe Jahr wusste ich nicht, ob ich die schwere Arbeit durchhalte­n

Das Pfahlbaumu­seum zählt zu den Top-10-Tourismusz­ielen am Bodensee. Jährlich besuchen bis zu 300.000 Menschen das Museum in Uhldingen-Mühlhofen, das als ältestes archäologi­sches Freilichtm­useum Deutschlan­ds gilt. Geöffnet ist es derzeit tägsem würde“, erinnert sie sich. Rückblicke­nd sagt die junge Frau: „Nach sechs Monaten wurde es immer besser. Und an die Höhe habe ich mich gewöhnt.“Bisweilen arbeitet sie ohne Handschuhe, weil sich auf ihren Händen eine Hornhautsc­hicht gebildet hat. Vier bis fünf Jahre dauere es, bis man ein „richtig guter Reetdachde­cker ist“, weiß sie. Alle Kniffe beherrsche man nach zehn Jahren, sagt sie. Ist das Dach fertig gedeckt, misst die Schilfbede­ckung 30 bis 35 Zentimeter. Regnet es, werden nur die äußeren 1,5 Zentimeter

lich von 10 bis 17.30 Uhr, ab 18. Mai bis 18 Uhr. Ende Juni wird hier ein neuer, 14,5 Millionen teurer Erweiterun­gsbau eröffnet.

Neben dem Rundgang durch die Anlage und den Ausstellun­gen über die Geschichte des Museums und die Fundstücke aus der Bronzezeit erwarten die Besucher auch Veranstalt­ungs-Highlights, die in die

nass, ansonsten fließt das Wasser ab. Nicht gut ist es, wenn die Bedeckung weniger als 15 Zentimeter dick ist oder ein Loch hat. „Dann wird gestopft – wie bei einem Strumpf“, erklärt die Handwerker­in.

Schon in der Stein- und Bronzezeit hätten die Menschen mit Schilf gearbeitet, berichtet Museumsche­f Gunter Schöbel. „Archäologe­n haben bei Ausgrabung­en komplette Schilfbünd­el gefunden.“50 bis 70 Jahre hätten die Häuser früher im Schnitt gehalten. Im Pfahlbaumu­seum Jahr unter dem Motto „Haus am See“stehen. So geht es beispielsw­eise um das Thema „Hausbau in den Pfahlbaute­n“mit dem Archäologe­n Jean Loup Ringo

(18. - 23. Mai), um „Herstellun­g von Stoffen, Schnüren und Seilen“mit der Archäologi­n Gisela Michel (24. - 29. Mai) oder um „Bienenhalt­ung und Honiggewin­nung“mit stammt das älteste rekonstrui­erte Haus aus dem Jahr 1922 und hat mittlerwei­le die dritte Dachdeckun­g über der ursprüngli­chen. Bis in die 1950er-Jahre wurde für die Bedeckung Schilf von Bauern aus der Umgebung – beispielsw­eise aus Maurach – verwendet. Heute ist das nach Angaben des Museumsche­fs nicht mehr möglich, weshalb für die derzeitige­n Arbeiten das rund 1,20 Meter lange Schilf aus Ungarn bezogen werde.

„Zusätzlich zum Klimawande­l setzen Stürme dem Pfahlbaumu­seum

Herbert Gieß (30. Mai - 2. Juni). Wie die Pfahlbauer einst die Ressourcen der Natur gekannt und genutzt haben, erfährt man in der Themenwoch­e „Rinde, Bast, Leinen – Textilien der Pfahlbauer“(26. Juli - 1. August.)

Weitere Informatio­nen und Veranstalt­ungen gibt es unter: www.pfahlbaute­n.de

zu“, erklärt der Museumsche­f. Neben dem Sanieren der Dächer überarbeit­en die Reetdachde­cker derzeit zusätzlich die Firste, die gleichsam Angriffsst­ellen für die Stürme sind. Klar ist schon jetzt: Dachreiter teilen den Windstrom, wirken der Ausfransun­g der Dächer entgegen.

Gunter Schöbel liebt „seine“Pfahlbaute­n. Es gebe sie von der Antarktis bis nach Afrika. In Uhldingen-Mühlhofen sind die längsten für die Pfahlbaute­n verwendete­n Pfähle meist aus Eichenholz und 13 Meter lang, gemessen über dem Seegrund. Sie wurden bis zu zwei Meter tief in den Seeboden gerüttelt. 25 bis 30 Pfähle im Abstand von bis zu zwei Metern bilden das Grundgerüs­t eines jeden Hauses, wobei zehn davon Firstpfähl­e sind. Auf diesem Grundgerüs­t werden die mit Lehm verputzten Wände und das Dach aufgesetzt. Die Bauten kämen gut mit unterschie­dlichem Wasserspie­gel zurecht und seien auch bei Erdbeben f lexibel, sagt der Museumsche­f. Das wisse man aus Japan.

Überhaupt sei das Leben in Pfahlbaute­n sehr nachhaltig gewesen, weil die Menschen in einem Umkreis von zwei Kilometern alles fanden, was sie zum Leben brauchten „und nichts aus Japan oder beispielsw­eise China anliefern ließen“. So verwendete­n sie Buche für den Innenausba­u und Esche für die Herstellun­g von Werkzeugst­ielen. Aus Ahorn wurden Schalen und Schüsseln gefertigt, aus Birkenrind­e beispielsw­eise Schachteln. Schnüre und Kleidung wurden aus Lindenbast hergestell­t. Waren die Menschen erkältet, haben sie einen Tee aus Lindenblüt­en aufgegosse­n. Weidenrind­e wurde als Mittel gegen Kopfweh eingesetzt. Bockshornk­leesamen standen wegen ihres Ölgehalts auf dem Speiseplan – wie auch beispielsw­eise Weißer Gänsefuß als Gemüse. Professor Schöbel sagt: „Die Menschen damals haben sehr nachhaltig gelebt. Wir können viel von ihnen lernen.“

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den Bodensee besonders gut.
FOTO: HILDEGARD NAGLER Bei der Arbeit an und auf den Dächern der Pfahlbaute­n in Uhldingen-Mühlhofen gefällt Moira Memmhardt der Blick über den Bodensee besonders gut.

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