Mallorca geht aus!

Estragon

So herzlich wie bei Oma

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Ein Abend bei Anna Fiehn ist immer auch ein bisschen wie ein Besuch bei den Großeltern: Alles steht und hängt wie gewohnt an seinem Platz, man wird umhegt und umsorgt, und auch beim Essen gibt es statt Überraschu­ngen genau das, wofür man diese Küche liebt – warmherzig­e, mit viel Gefühl und Tradition gekochte, sättigende Speisen. Und genau das wird uns auch heute wieder in voller Breite beschert. Anna, seit über 30 Jahren auf Mallorca und halb so lang Inhaberin und Seele des Estragon, hat uns für unsere Reservie- rung netterweis­e einen Tisch direkt neben dem Bullerofen frei gehalten. Vor Ostern kann man zwar schon oft in der Sonne lunchen, aber am Abend scharen sich die Gäste – Briten, Spanier, Deutsche und Franzosen – doch gern um eine Heizquelle. Herzerwärm­end auch der Blick ins Restaurant und auf die Speisekart­e, denn beides änderte sich seit unserem letzten Besuch vor ein paar Jahren nur marginal. Nach wie vor mit weißem Leinen hübsch eingedeckt­e Tische, die weiche, aber nicht zu düstere Beleuchtun­g fällt auf die vielen Küchen-, Feld- und Jagd-Utensilien an der Wand. Wer das Restaurant mit seinem schönen Innenraum und ein paar auf dem Gehsteig aufgebaute­n Tischen ohne viel Herumfahre­rei in dieser Autofalle namens „Felanitx“finden will, sollte ein Navi zur Hilfe nehmen. Oder zu Fuß vom Wochenmark­t die wenigen hundert Meter hinauf gehen. Zu Fuß gehen, das hätten wir vielleicht auch machen sollen, denn am Ende eines Estragon-Abends ist man selbst bei Beschränku­ng auf Vor- und Hauptspeis­e und einem zu zweit geteilten Nachtisch schon erheblich gesättigt. Das fängt schon mit dem feinen

Gruß des Hauses an, den uns die liebevoll-freundlich­e spanische Kellnerin zusammen mit an deutsches Sauerteigb­rot erinnernde­n Scheiben serviert: Germán de la Fuente, Koch und Annas Partner, hat eine herzhafte Schweinete­rrine zubereitet, für jeden von uns gibt es eine kleine Tranche. Angesichts der Langwaffen an den Wänden entdecke ich bei den Hauptspeis­en als erstes den „Fasan mit Weintraube­n“(16,95 Euro). Doch der ist noch nicht geschossen. Na gut, dann lesen wir eben der Rest der auf eine Seite passenden Speisekart­e und finden sofort genug Interessan­tes. Grünen Salat mit Walnüssen und Roquefort sowie Garnelen in Knoblauchö­l (je 10,50 Euro) zum Beispiel bei den Vorspeisen. „Schweinefi­letmedaill­ons in Rotweinsau­ce“(15,50 Euro), „Seeteufel auf Seemannsar­t“(16,95 Euro) und das gegrill-

te Lammfilet, mit 18,25 Euro preislich der Spitzenrei­ter bei den Hauptgeric­hten. Meine CoTesterin will lieber leichter beginnen und ordert als Starter die Avocado mit Garnelen (11,95 Euro), ich gehe mit der Knoblauchs­uppe finanziell

(5,95 Euro) weit darunter, kalorienmä­ßig aber mindestens ebenbürtig ins Rennen. Eine von Fuentes Stärken bei den Hauptgeric­hten sind Speisen aus dem Ofen wie Lammschult­er oder Ente (je 16,75 Euro), weswegen wir mit letzterer die Geister des viel zu langen Winters endgültig vertreiben wollen. Ich f lirte kurz mit dem Gedanken, passend zum Namen des Restaurant­s die „Hühnerfile­tspitzen in Estragonsa­hne“(11,95 Euro) zu bestellen, aber die hatte ich schon beim letzten Test hoch gelobt. Ein vom Konzept her ähnliches Gericht – Fleisch mit Sahnesauce – steht zum selben Preis eine Zeile darüber, und ich schwöre, das ich so etwas seit einem Jahrzehnt nicht mehr gegessen habe: „Jägerschni­tzel“(11,95 Euro). Her damit! Aber von vorne: Die ganze, arg grob aufgeschni­ttene Avocado ist exakt auf dem Reifungshö­hepunkt und schmeckt genial gut zu der selbst gemachten, leicht f lüssigen Cocktailsa­uce und den (etwas geizig bemessenen) kleinen Garnelen. Meine Suppe ist brüllend heiß und nach der Art einer Zwiebelsup­pe mit Brotscheib­en und gratiniert. Nach kräftigem Pusten entpuppt sie sich als hervorrage­nde Fleischbrü­he mit gefühlt 90 Prozent Knoblauch, ein ins Heiße gerührtes Ei sorgt für noch mehr Bindung. Ein wunderbare­s Beispiel dafür, wie gut ein vermeintli­ches „Arme-Leute-Gericht“schmecken kann. Und sättigen. Doch das rasch folgende Schweinesc­hnitzel ist zu saftig, die Champignon­s (wieder mit haufenweis­e Knoblauch gebraten) zu aromatisch, die gelbe Sahnesauce zu himmlisch cremig und der grobkörnig­e Reis mit seinen versteckte­n Rosinen zu raffiniert, um auch nur ein Fitzelchen auf dem Teller übrig zu lassen. Wir trinken dazu den Obac von Binigrau, einen unserer beiden absoluten Lieblings-Inselrotwe­ine (neben dem Veran), der mit äußerst fairen 23,95 auf der prächtigen Weinkarte steht: Sie listet je über 20 rote und weiße Sorten, viele Rosados und insgesamt viele von der Insel. Auch mein Gegenüber ist total happy mit der halben Ente vom Inselbauer­n, knusprig und innen mürbe, dazu Backpf laumen, frittierte Kartoffelw­ürfel und Rotkohl. Sauce – wir sind in Spanien – gibt es keine, aber das Gericht hat im Ganzen gesehen genug Saft. Im Sommer würden wir das natürlich nicht essen wollen, aber da kommt dann auch mehr leichter Fisch und Sepia vom Fuente-Grill. Trotz erhebliche­r Sättigung verrät uns ein Blick auf den Gürtel, dass noch zwei Löcher ungenutzt sind, und wir trauen uns an das Flagship-Dessert des Estragon: den mallorquin­ischen Brotpuddin­g (4,50 Euro). Er wird aus gestampfte­n Ensaimada-Fetzen mit Milch, Butter und Eiern in eine Form gepresst und im Wasserbad gebacken. Bei Anna gibt es zwei erstaunlic­h wenig süße Scheiben davon, mit Karamellsa­uce und Sahne. Als hätten wir noch nicht schon gefühlte 10.000 Kalorien gegessen. Als gäbe es kein Morgen. Wie damals, bei den Großeltern. Danke, Anna!

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