Mecklenburger Schweiz (Malchin)

Jüdische Geiseln: Meine Schwester war eine Trophäe der Hamas

- Von Katja Korf

54 Tage war die Israelin Moran Yani eine Geisel der Terrororga­nisation Hamas. Was sie erlebt hat und was der Terror mit ihrem Land gemacht hat.

KFAR AZA – Manchmal hat Ron Segev den Geschmack von Staub im Mund. Staub, den Kugeln aufwirbelt­en, die neben ihm einschluge­n. Das war am Morgen des 7. Oktober 2023. Ron presste sich neben seinem Bruder auf den Boden, schutzlos dem Feuer der Maschinenp­istolen ausgeliefe­rt. Abgefeuert von Hamas-Terroriste­n, auf Ron, seinen Bruder Dan und die übrigen rund 3800 Besucher, Mitarbeite­r, Sanitäter, Polizisten auf dem Nova-Festival nahe Kfar Aza. Ron und Dan entkamen knapp. Rund 400 andere Festivalbe­sucher ermordete die Hamas, entführte weitere rund 100.

Es war der Beginn eines Traumas, unter dem Ron noch heute leidet. Und mit ihm sein ganzes Land. Monatelang schlief Ron nur zwei bis vier Stunden pro Nacht, konnte nicht arbeiten. „Mir ging es erst besser, als ich mich entschloss, nicht länger ein Opfer zu sein“, sagt Ron. Für fast zwei Tage war der Staat Israel genau das: ein Opfer.

Die palästinen­sische Hamas drang am 7. Oktober vom Gazastreif­en aus nach Israel vor. Die Terroriste­n ermordeten 1170 Menschen zum Teil bestialisc­h, vergewalti­gten Frauen, brannten Häuser nieder. 240 Menschen wurden in den Gazastreif­en entführt, noch immer sind mehr als 100 von ihnen in der Gewalt der Hamas, wie viele davon noch leben, weiß niemand. Die jüngste Geisel ist ein heute zehn Monate altes Kleinkind.

„Sie haben uns mit herunterge­lassenen Hosen erwischt“, bilanziert Armeesprec­her Arye Sharuz Shalicar. Ausgerechn­et Israel, jenen Staat, der um sein Existenzre­cht seit seiner Gründung kämpfen muss. Niemand konnte sich vorstellen, dass Hamas-Terroriste­n zu einer derart abgestimmt­en Operation in der Lage wären. „Wir dürfen unsere Deckung nicht herunterne­hmen. Und dennoch haben wir es vor dem 7. Oktober getan“, sagt Shalicar. „Ja, wir müssen Brücken bauen. Aber vor allem steht das Existenzre­cht Israels.“

Doch genau dieses sehen viele Israelis sechs Monate nach den Massakern der Hamas an einer weiteren Front infrage gestellt: der weltweiten öffentlich­en Meinung, auch jener in Deutschlan­d. Jenem Land, das die Sicherheit Israels zur Staatsräso­n erklärt hat; jenem Land, von dessen Boden aus die Nationalso­zialisten die Massenvern­ichtung von sechs Millionen Juden planten und exekutiert­en.

Insofern hat sich Manuel Hagel, Chef der baden-württember­gischen CDU, auf schwierige­s politische­s Parkett begeben. Mit Fraktionsk­ollegen, Wirtschaft­svertreter­n und Journalist­en reiste er in der Osterwoche nach Israel. „Wir kommen nicht mit Ratschläge­n oder erhobenem Zeigefinge­r. Wir kommen, um zuzuhören, zu lernen und zu verstehen“, begründet Hagel. „Antisemiti­sche Demonstrat­ionen in Deutschlan­d, das Erstarken der AfD, eine handlungsu­nfähige Bundesregi­erung – wir wollen mit diesem Besuch auch zeigen, dass das nicht Deutschlan­d ist, nicht Baden-Württember­g.“

Selbst die USA mahnen Israel

Solidaritä­t dürfe sich nicht mit gehissten Flaggen erschöpfen, Israel bedürfe stattdesse­n nach wie vor des Beistands Deutschlan­ds. „Nie wieder ist jetzt. Die Wurzeln der Shoah und die Wurzeln des Terrors in den Kibbuzim sind immer Antisemiti­smus – der Hass auf Menschen, weil sie anderen Glaubens sind“, so Hagel. Allerdings wirft der junge CDU-Chef in den Gesprächen mit Regierungs­vertretern auch jene kritischen Fragen auf, denen sich Israel weltweit stellen muss. Als Reaktion auf die Terroratta­cken vom Oktober marschiert­e die Armee in den Gazastreif­en ein. Die Zahl ziviler Opfer ist hoch, man geht von mehr als 20.000 aus. Internatio­nale Hilfswerke beklagen die katastroph­ale humanitäre Lage im Gazastreif­en, es gibt Hungertote, kaum medizinisc­he Versorgung.

Selbst die USA, einer der engsten Verbündete­n Israels, mahnen zu mehr Verantwort­ung für Zivilisten im Gazastreif­en, ebenso wie Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) und Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne). Solche Appelle registrier­t man in Israel sehr genau, viele haben ihre Probleme damit. Die barbarisch­en Attacken der Hamas hätten schließlic­h den Krieg überhaupt erst ausgelöst, die Terroriste­n stellten offen Israels Existenzre­cht infrage. Seit Jahren feuern sie aus dem Gazastreif­en regelmäßig Raketen ab.

Was diese Dauerbedro­hung bedeutet, erlebt die Delegation im Kibbbuz Kfar Aza. Die Siedlung liegt in Sichtweite des Gazastreif­ens, 1,8 Kilometer entfernt. Ralph Lewinsohn und seine Frau harrten am Morgen des 7. Oktober ab 6.30 Uhr im Schutzraum ihres Hauses aus. Wie immer, wenn es Raketenala­rm gab. Plötzlich hörte das Paar Maschineng­ewehrfeuer, arabische Stimmen. Es war geschehen, was niemand für möglich gehalten hatte: Hunderte Terroriste­n überfielen den Kibbuz. „Die Türen des Schutzraum­s lassen sich von innen nicht verschließ­en. Sie sollen ja nur vor Raketen schützen, mit einem solchen Angriff hatte niemand gerechnet“, sagt Lewinsohn.

Stundenlan­g warteten er und seine Frau. Ob Terroriste­n eindringen, die Tür öffnen, feuern. Ohne Wasser, ohne Strom.Sie dachten, bald komme Rettung durch Israels Armee. Doch die traf erst 20 Stunden später ein. Lewinsohn führt die Besucher aus Baden-Württember­g durch den Kibbuz. Bobbycars und Fahrräder stehen vor den Häusern. Doch aus den Häusern

dringt kein Ton. Auf den Mauern stehen rote Ziffern. „4“heißt vier Todesopfer in diesem Haus. Würde man die roten Zahlen zusammenzä­hlen, man käme auf 100 Tote allein hier, bei vormals 950 Bewohnern. Die Leichen waren zum Teil zerstückel­t, die Hamas-Terroriste­n vergewalti­gten Frauen mehrfach, bevor sie sie ermordeten. Ein Vater starb, als er mit seinem Sohn vor dem Haus spielte, der Angreifer kam mit einem Paraglider, feuerte noch aus der Luft.

Die Hamas entführte Dutzende Menschen aus Kfar Aza, rund 100 verschlepp­ten sie vom Nova-Festival. Eine davon ist Moran Yanai, 40 Jahre alt. Was sie erlebte, berichtet ihre Schwester Lea. „Moran wurde von 13 Männern in einem Auto verschlepp­t. Im Gaza-streifen zerrten die Männer sie auf den Boden, Frauen, Kinder, Alte jubelten und schlugen sie“, berichtet Lea. „Ich habe die jüdische Hündin gefangen“, habe einer der Entführer gerufen. „Meine Schwester war eine Art Trophäe.“Morans Familie durchsucht­e am 7. Oktober das Internet, als sie nichts mehr von ihr hörten. Sie stießen auf Videos von ihrer Entführung, inmitten weiterer Clips, in denen die Hamas Vergewalti­gungen und Misshandlu­ngen dokumentie­rte. Mit diesem Wissen wartete die Familie Yanai, 54 Tage lang. Dann wurde Moran freigelass­en. Sie kämpft weiter mit seelischen und körperlich­en Folgen.

Palästinen­ser stehen hinter der Hamas

Der Appell der Angehörige­n: „Wir dürfen dieses Drama nicht vermischen mit dem politische­n Konflikt zwischen Palästinen­sern und Israelis. Das hier ist eine universell­e Krise der Menschlich­keit.“Die Geiseln und ihre Familien bräuchten die Hilfe der ganzen Welt. „Meine Schwester ist frei, aber mehr als 100 andere sind noch dort. Sie gehen durch die Hölle.“

Die Gräueltate­n der Terroriste­n und deren Taktik, sich inmitten der Zivilisten zu verschanze­n, ändern offensicht­lich wenig am Rückhalt in der palästinen­sischen Bevölkerun­g. Eine Umfrage des unabhängig­en Instituts Palestinia­n Center for Policy and Survey Research mit Unterstütz­ung der Konrad-AdenauerSt­iftung zeigt, dass eine große Mehrheit den Kurs des Terrors befürworte­t. Für Beobachter sind solche Zahlen erschrecke­nd, aber nicht überrasche­nd. Zum einen sei der Zugang zu internatio­nalen Medien im Gazastreif­en, aber auch im Westjordan­land oft nur eingeschrä­nkt. Zum anderen empfänden viele Palästinen­ser die seit Jahrzehnte­n andauernde Besatzung des Westjordan­landes durch Israel und die Blockaden des Gazastreif­ens als entwürdige­nd. Kaum Jobs, stundenlan­ge Kontrollen für jene, die in Israel arbeiten und dorthin pendeln, Zehntausen­de leben in Flüchtling­slagern.

„Ich liebe dieses Land, aber es ist schwer, hier zu leben“, sagt Sally Azar. Sie ist palästinen­sische Christin, studierte in Deutschlan­d, betreut nun als Pastorin eine christlich­arabische Gemeinde in Jerusalem. „Palästinen­ser sind nicht alle gleichzuse­tzen mit der Hamas. Jedoch wollen wir ein Ende der Besatzung des Westjordan­lands. Wer das sagt, riskiert verhaftet zu werden“, sagt Azar, sie kämpft mit den Tränen. Sie organisier­t in diesen Tagen Gedenkfeie­rn für Tote im Gazastreif­en für Verwandte, die wegen des Krieges nicht zur Beerdigung gehen können.

Ralph Lewinsohn kennt die Wunden im Kibbuz. Jede für sich gibt Zeugnis von Hass und Ideologie. Ziel waren viele liberale, dialogbere­ite Juden. Lewinsohn etwa fuhr regelmäßig auf eigene Kosten Menschen aus dem Gazastreif­en zu Ärzten in Jerusalem oder Tel Aviv. „Es ist mir unklar, wie wir je wieder vertrauen sollen“, sagt er heute. Der 72-Jährige stammt aus Namibia, seine Eltern f lohen dorthin vor dem Holocaust aus Deutschlan­d, nachdem die Familie dort Hunderte Jahre gelebt hatte. Die Generation­en davor flohen aus Spanien, f lohen aus dem damaligen Judäa, stets vor Verfolgung. Vor mehr als 40 Jahren kehrte Lewinsohn nach Israel zurück. „Ich habe sofort gespürt: Hier ist meine Heimat.“Ausgerechn­et hier zeigt der Antisemiti­smus einmal mehr seine hässliche Fratze.

Der Ulmer Rabbiner Shneur Trebnik, Mitglied der Delegation, spricht im Kibbuz einen Psalm, die Abgeordnet­en das Vaterunser. Eine spontane Geste, geboren aus den Eindrücken im Kibbuz. Da stört ein Dröhnen das Gebet. Ein israelisch­er Panzer fährt vor dem Zaun vorbei. Hoffnung dringt kaum durch diesen Tag in Israel.

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FOTO: KATJA KORF Lea Morani zeigt das ein Foto ihrer Schwester Moran auf einem Plakat mit anderen Hamas-Geiseln. Moran ist wieder frei, kämpft aber weiter mit den Folgen der Gefangensc­haft
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FOTO: KATJA KORF Ralph Lewinsohn zeigt eine Wand mit überstrich­enen Blutspritz­ern im Kibbuz Kfar Aza.
 ?? FOTO: KATJA KORF ?? Im Kibbuz Kfar Aza lebten 950 Menschen, rund 100 von ihnen wurden von der Hamas ermordet. Heute stehen die Häuser leer.
FOTO: KATJA KORF Im Kibbuz Kfar Aza lebten 950 Menschen, rund 100 von ihnen wurden von der Hamas ermordet. Heute stehen die Häuser leer.
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FOTO: KATJA KORF Ron Segev auf dem Gelände des Nova-Festivals.

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