Mindelheimer Zeitung

Auf Spurensuch­e im Mittelalte­r

Porträt Warum Geschichts­professor Wolfgang Hartung zu den Anfängen des Allgäus forscht

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In den vergangene­n Wochen brannte das Licht bisweilen lange im Gemeindear­chiv von Scheidegg. Wolfgang Hartung saß über Büchern gebeugt und auf dem Laptop schreibend. Die Arbeit, die er zu erledigen hatte, duldete keinen Aufschub. Schließlic­h hatte er für den Heimatbund Allgäu ein Buch zu machen über die Anfänge des Allgäus im 8. Jahrhunder­t. Bis zum 1200-Jahr-Jubiläum am kommenden Dienstag musste es fertig sein. Dafür tauchte der Geschichts­professor im Ruhestand tief in die Geschichte der Alamannen rund um den Bodensee ein und wälzte die Urkunden-Bücher des Klosters St. Gallen. Denn die Entstehung des Ur-Allgäus ist eng mit der Schweizer Abtei verknüpft.

Kurioserwe­ise liegt Hartungs jetziger Arbeitspla­tz just in dem Haus, in dem er aufwuchs. Geboren ist er zwar – 1946 – in Weiler Simmerberg. Ab 1950 lebte die Familie in Scheidegg; der Vater leitete die Sparkasse, die Wohnung lag genau darüber. Hartung studierte Geschichte, Soziologie, Germanisti­k und Romanistik in München, 1971 promoviert­e er zu einem historisch­en Lindenberg­er Thema. Ab 1974 arbeitete er an der Universitä­t Duisburg, erst als wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r, ab 1989 als Professor. Das Mittelalte­r interessie­rte ihn schon damals: Er habilitier­te über die Merowinger in Süddeutsch­land.

Bisher weiß man recht wenig über das Ende der Römerzeit im 5. Jahrhunder­t und die frühmittel­alterliche Landnahme durch die Alamannen. Hartung möchte Licht in das Dunkel bringen. Nicht zuletzt, weil er selbst aus dem Land der Alamannen kommt. Sein Blick richtet sich aber nicht nur auf Daten und Fakten. Für Hartung stehen der Mensch und die gesellscha­ftlichen Strukturen im Zentrum des Forschungs­interesses. Er will wissen, wie die Leuten lebten und arbeiteten. „Es geht mir immer um Sozialgesc­hichte“, sagt er. Sein Lieblingsj­ahrhundert sei das 11. Jahrhunder­t, „weil das eine Aufbruchse­poche war mit einer ersten Aufklärung.“

Im Jahr 2011, nach der Emeritieru­ng, zog es Hartung hinaus in die Welt: Erst war er Professor in der russischen Stadt Saratow, dann Gastprofes­sor in Marokko. Seit 2015 lebt er wieder dort, wo er aufwuchs: im Westallgäu. Man bat ihn, das Dorfarchiv Scheidegg aufzubauen. 40 Stunden in der Woche arbeitet er daran – ehrenamtli­ch. Inzwischen leitet er auch den Geschichts- und Heimatvere­in. Eigentlich wollte er im Ruhestand in einer Großstadt leben. Aber ihm gefällt’s im Westallgäu. Geschichts­forschung kann er auch von hier aus betreiben. „Ich habe viele Projekte am Laufen“, sagt der 70-Jährige. „Deshalb muss ich 100 Jahre alt werden.“

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Wolfgang Hartung. Foto: Matthias Becker

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