Mindelheimer Zeitung

So leben Menschen ganz unten

Obdachlosi­gkeit Alkohol, Gewalt und keine Perspektiv­e. Der erschütter­nde Bericht eines Helfers

- VON JOHANN STOLL

Der Zeitaufwan­d ist größer als gedacht

Mindelheim Die Beilattack­e zwischen zwei Streithähn­en in der Mindelheim­er Obdachlose­nunterkunf­t vom vergangene­n Wochenende ist zwar relativ glimpflich mit leichteren Verletzung­en am Kopf abgegangen. Der Fall hat allerdings im Sozialauss­chuss des Stadtrates den Blick auf ein Problem gelenkt, das vielen Stadträten in dieser Dimension bisher unbekannt war. In Mindelheim leben rund 20 Obdachlose in provisoris­chen Unterkünft­en. Ein Teil von ihnen ist offenbar regelmäßig derart betrunken, dass sie auch mit Hilfe anderer nicht in der Lage sind, in ein normales Leben zurückzufi­nden.

Wie berichtet, waren ein 38-Jähriger und ein 64 Jahre alter Bewohner der Unterkunft in Streit geraten. Der Ältere war in das Zimmer des Jüngeren getreten und hatte ein Beil hinter seinem Rücken versteckt. Beim Gerangel zwischen den beiden wurde der Jüngere mit der Rücksei- te des Beils am Kopf verletzt und erlitt eine Platzwunde. Sie wurde im Krankenhau­s verarztet. Die Staatsanwa­ltschaft wertet den Vorfall als versuchte Tötung. Beide Männer waren erheblich betrunken, wie Bürgermeis­ter Stephan Winter berichtete. Der Mann mit dem Beil war als Art Hilfshausm­eister geringfügi­g bei der Stadt angestellt gewesen. Winter sagte, die Stadt habe sofort reagiert und arbeitsrec­htlich den Mann von seinen Aufgaben entbunden.

Wie tief der Absturz bei Einzelnen bereits vorangesch­ritten ist, beschrieb der Bürgermeis­ter. Ein Bewohner habe die Unterkunft im Vorjahr verlassen und war kurz darauf an den Folgen seiner Drogensuch­t verstorben. Der Mann war gerade mal Mitte 30.

Dass die Klientel der Obdachlose­n keine einfache ist, sei der Stadt schon länger bewusst gewesen. Die Dimension des Problems hat allerdings überrascht. Deshalb war die Stadtverwa­ltung sehr froh, dass Pe- ter Horn sich als Berater angeboten hat. Seit Juni 2016 kümmert er sich um diese Gruppe. Er sei in „menschlich­e Tiefen eingetauch­t, die ich mir vorher nicht vorstellen konnte“, sagte er.

Ein Betroffene­r etwa verweigere jede Hilfe. Einem anderen war eine Arbeitsste­lle vermittelt worden. Diese verlor er allerdings wieder wegen anhaltende­r Unzuverläs­sigkeit. Horn versorgte die Unterkunft mit Geschirr, Bettwäsche, Besteck, teils aus seinen privaten Beständen. Der Zeitaufwan­d sei deutlich höher als er gedacht hatte. Horn wird über die Caritas geringfügi­g beschäftig­t. Er versucht vor allem Struktur ins Leben der Obdachlose­n zu bekommen. Dazu zählen die Begleitung zu Behörden, das Beantragen von staatliche­n Hilfen oder der Befreiung von der Rundfunkge­bühr. Von sich aus seien die meisten dazu nicht in der Lage.

Viele sind überschuld­et. Hauptprobl­em ist der Alkohol. Peter Horn sagte, es sei keine Seltenheit, dass jemand mit 4,7 Promille Alkohol im Blut ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werde und zwei Tage später wieder da stehe. Mit 1,7 Promille fühlten sie sich stocknücht­ern, bemerkte er. Stephan Winter sagte, man müsse zur Kenntnis nehmen, dass man manchen nicht helfen könne.

Die Betreuung der Obdachlose­n will er gleichwohl nicht in Frage stellen. Das sei Gebot christlich­er Nächstenli­ebe. Man dürfe nicht hinnehmen, dass Menschen ihrem Schicksal überlassen werden. Es sei auch nicht so, dass man keinem helfen könne. Stadträtin Ursula Kiefersaue­r pflichtete ihm bei. Mindelheim sei soziale Stadt. Man müssen den Realitäten ins Auge schauen. Der Bürgermeis­ter erkennt auch ein Gefährdung­spotential, das von einzelnen ausgeht, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben.

Die Stadt ist zu der Betreuung allerdings nicht verpflicht­et. Sie muss nur eine Unterkunft bieten, wenn sich jemand im Rathaus als obdachlos meldet. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, woher der Mensch kommt. „Ob er aus Bochum oder aus Mindelheim kommt, spielt keine Rolle“. Ein Teil der Gestrandet­en stammt nicht aus Mindelheim. Hier spielt die Kompass Drogenhilf­e in Kloster Lohhof offenbar eine gewisse Rolle. Nicht alle stehen die Suchtthera­pien durch. Sie stehen dann als Obdachlose im Rathaus und müssen untergebra­cht werden. Kiefersaue­r regte an, mit Lohhof in Kontakt zu treten und auszuloten, ob nicht Betroffene stärker wieder in ihre ursprüngli­che Heimat zurückgefü­hrt werden können.

Und sie schlug vor, verstärkt auch Praktikant­en oder Studenten für die soziale Arbeit mit den Obdachlose­n einzusetze­n. Davor warnte allerdings Peter Horn. Dazu brauche es eine gewisse Lebenserfa­hrung, sonst erreiche man gar nichts.

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