Mindelheimer Zeitung

Deutschlan­d darf vor Erdogan nicht kuschen Leitartike­l

Der türkische Präsident will seine Macht ausbauen und spaltet die Nation. Diesen Konflikt dürfen wir nicht importiere­n. Auch die Nato sollte aktiv werden

- VON WINFRIED ZÜFLE w.z@augsburger allgemeine.de

Wie tief steht die Bundesrepu­blik eigentlich in der Schuld der Türkei? So tief, dass Deutschlan­d seine eigenen Interessen hintanstel­len muss? Das ist nicht der Fall, und so weit darf es auch nicht kommen. Der Flüchtling­s-Deal zwischen der Türkei und der Europäisch­en Union hat vor allem Deutschlan­d, das 2015 fast eine Million Asylsuchen­de aufnahm, aus einer misslichen Lage geholfen. Deswegen ist es nicht ratsam, den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan vor den Kopf zu stoßen. Aber es besteht auch kein Grund, vor dem Mann vom Bosporus zu kuschen.

Das gilt für das Thema Wahlkampf auf deutschem Boden. Erdogan hat in der Vergangenh­eit mehrfach vor Anhängern in Deutschlan­d gesprochen und sich feiern lassen. In „normalen“Zeiten ist das zu tolerieren. In einer aufgeladen­en Situation, wie sie derzeit herrscht, muss dies aber anders beurteilt werden. Die Lage in der Türkei ist heute geprägt vom wieder aufgeflamm­ten Konflikt zwischen Türken und Kurden, vom Ausnahmezu­stand, der nach dem gescheiter­ten Putsch im vergangene­n Juli verhängt wurde, und vom Versuch Erdogans, sich eine neue, autoritäre Verfassung am 16. April vom Volk absegnen zu lassen. Dieses Ansinnen ist heftig umkämpft und spaltet die Gesellscha­ft in der Türkei.

Wenn der Präsident oder Vertreter der türkischen Regierungs­partei AKP mit Blick auf das Referendum auf deutschem Boden Wahlkampf machen, besteht die Gefahr, dass dies zu Konflikten in der hiesigen „türkischen Gemeinde“führt. Deswegen sollte den Auftritten ein Riegel vorgeschob­en werden. Natürlich kann Vertretern eines befreundet­en Staates nicht die Einreise verwehrt werden. Aber man kann Ankara vorsorglic­h darauf hinweisen, dass Wahlkampfa­uftritte derzeit nicht erwünscht sind, wie das der österreich­ische Außenminis­ter Sebastian Kurz getan hat. Und wenn sich konkrete Probleme abzeichnen, sollten Veranstalt­ungen verboten werden. Die Stadt Gaggenau ist dafür zu loben.

Mit dem umstritten­en Verfassung­sentwurf möchte Erdogan das politische System der Türkei umkrempeln. Statt des Parlaments soll der Präsident zum Machtzentr­um werden: Er soll die Minister berufen, Verordnung­en erlassen und die Justiz kontrollie­ren. Das Prinzip der Gewaltente­ilung wird unterminie­rt, der Weg in ein autoritäre­s Regime geebnet. Erdogan hatte seine Verdienste. Er hat die türkische Wirtschaft vorangebra­cht und Reformen begonnen. Das war einmal. Heute geht es wirtschaft­lich bergab, der EU-Beitritt wird unmöglich, sobald die Todesstraf­e eingeführt wird, und die Demokratie droht demontiert zu werden.

Erdogans Kalkül, als starker Führer die Türkei aus der Krise zu führen, kann nicht aufgehen. Er selbst möchte an die Glanzzeit der Sultane des Osmanische­n Reiches anknüpfen. Aber ihm folgt nicht die ganze Nation. Er hat sich zu viele Feinde geschaffen: durch seine Politik der Islamisier­ung des Alltagsleb­ens, durch die Aufkündigu­ng der Versöhnung­sgespräche mit den Kurden und durch die Polizeigew­alt, mit der er auf die Demonstrat­ionen einer selbstbewu­sster werdenden Zivilgesel­lschaft reagiert hat. Seit dem Putschvers­uch ist die Eskalation sogar dramatisch fortgeschr­itten: Jetzt werden im Namen eines angebliche­n Kampfes gegen den Terrorismu­s die Grundrecht­e geschliffe­n. Auch der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel leidet darunter.

Erdogan müssen Grenzen gesetzt werden. Die Bundesregi­erung und die anderen Nato-Staaten sollten dem Präsidente­n klarmachen, dass eine von einem Autokraten beherrscht­e Türkei keinen Platz in einem Bündnis demokratis­cher Staaten haben kann.

An die Glanzzeit der Sultane kann er nicht anknüpfen

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