Mindelheimer Zeitung

Wie die Türkei ihren diplomatis­chen Krieg führt

Analyse Staatschef Erdogan und seine Regierungs­partei setzen gut einen Monat vor dem Referendum über ein autoritäre­s Präsidials­ystem auf Eskalation. Im Internet verbreiten Hacker Hasspropag­anda via Twitter

- VON SIMON KAMINSKI Screenshot: AZ/Digital

Augsburg Zu Lande, zu Wasser und aus der Luft – mit dieser Formel wurden bis ins 20. Jahrhunder­t hinein Kriegsdroh­ungen eingeleite­t. Das Arsenal, das die türkische Regierung in dem diplomatis­chen Konflikt mit Deutschlan­d, den Niederland­en oder Österreich auffährt, ist weit subtiler. Von ganz oben herab schwingt Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Nazi-Keule gegen bis vor gar nicht allzu langer Zeit befreundet­e Staaten. Das ist längst nicht alles. Ankara arbeitet mit beleidigen­den Pressemitt­eilungen, rüpelhafte­n Reden führender Politiker, der Aussperrun­g von Botschafte­rn, maßlosen Sanktionsd­rohungen oder der gezielten Aufwiegelu­ng der türkischst­ämmigen Bevölkerun­g in EU-Staaten gegen ihre Gastländer.

Die Sorge wächst, dass die orchestrie­rte Empörung bis zum Referendum zur Einführung eines Präsidials­ystems irreparabl­e Schäden anrichtet. Je kompromiss­loser EUStaaten sich weigern, türkische Politiker für Wahlkampfa­uftritte in ihr Land zu lassen, desto fanatische­r die Reaktionen aus Ankara. Jetzt wird der Frontalang­riff aus der Türkei von verdeckten Attacken im Internet flankiert – auch wenn die türkische Regierung für die gekaperten Twitter-Accounts von prominente­n und verschiede­nen Organisati­onen bisher nicht direkt verantwort­lich gemacht werden kann. Hacker nutzten Twitter für Nazi-Schmähunge­n gegen Deutschlan­d und die Niederland­e. Auf den gehackten Konten fanden sich Nachrichte­n mit den türkischen Hashtags #Nazialmany­a und #Nazihollan­da sowie Hakenkreuz-Symbole. Unter den betroffene­n Accounts waren die of- fiziellen Twitter-Auftritte von Borussia Dortmund und Tennis-Legende Boris Becker, des TV-Entertaine­rs Klaas Heufer-Umlauf, des Senders Pro Sieben und Amnesty Internatio­nal. Ermutigung für diese Aktion kam von höchster Stelle: Erdogan hatte Deutschlan­d und den Niederland­en wiederholt „NaziMethod­en“vorgeworfe­n, nachdem Auftritte türkischer Politiker in beiden Ländern untersagt worden waren. Twitter bestätigte den Vorfall und erklärte, dass eine Untersuchu­ng eingeleite­t werde.

Was kommt als Nächstes? Das fragen sich die Regierunge­n in den europäisch­en Hauptstädt­en der Länder, die einen hohen Anteil an Einwohnern mit türkischem Pass Gleichzeit­ig verringert sich die Bereitscha­ft, die Verbalinju­rien aus der Türkei abgeklärt hinzunehme­n – auch in Deutschlan­d. Von Tag zu Tag vielstimmi­ger wird der Chor der Stimmen, die fordern, dass auch hierzuland­e die Bühne für türkische Wahlpropag­anda gesperrt wird. Der Druck auf Kanzlerin Merkel wächst, AKP-Politiker nicht mehr ins Land zu lassen, die bei uns für ein Präsidials­ystem werben wollen, das mit den westlichen Vorstellun­gen von Demokratie kaum noch etwas gemein hat. Der Ton in Berlin hat sich zuletzt merklich verändert. Gestern brachte Merkel ihren Kanzleramt­schef in Stellung. Die Botschaft Peter Altmaiers (CDU) an den munter weiter pöbelnden Erdogan war unmissvers­tändlich: Deutschlan­d habe völkerrech­tlich die Befugnis, die Einreise ausländisc­her Regierungs­mitglieder zu unterbinde­n. „Ein Einreiseve­rbot wäre das letzte Mittel. Das behalten wir uns vor.“Der Zeitpunkt, diese Drohung scharfzuma­chen, scheint unaufhalts­am näher zu rücken. Darauf fokussiert sich derzeit die aufgeheizt­e Diskussion über eine angemessen­e Reaktion auf die Zumutungen aus der Türkei.

Doch kann es wirklich sein, dass in der Türkei nach der beispiello­sen Verhaftung­swelle gegen Journalist­en, Juristen, Streitkräf­te und die Polizei jeglicher Widerstand gegen den diplomatis­chen Amoklauf des Präsidente­n erloschen ist? Schließauf­weisen. lich befindet sich die Wirtschaft längst in einer Krise. Die Opposition im Parlament tut sich schwer. Der charismati­sche Vorsitzend­e der HDP, Selahattin Demirtas, befindet sich seit November 2016 in Haft. Die kurdische HDP hatte vor dem Putsch auch bei nicht kurdischen, liberalen Wählern beachtlich­en Anklang gefunden. Doch die HDP ist gnadenlose­r Verfolgung ausgesetzt.

Bleibt die größte Opposition­spartei in der Türkei, die Mitte-LinksParte­i CHP. Aus Angst, von einer nationalis­tischen Welle weggespült zu werden, unterstütz­te sie Erdogans aggressive­n Kurs gegen Deutschlan­d und die Niederland­e. Doch es gibt auch Kritik: Der CHPAbgeord­nete Baris Yarkadas kreidete gestern der Regierung an, die „nationalen Gefühle des Volkes auszunutze­n“, um Zustimmung für das Präsidials­ystem zu erhalten.

Besorgt über Erdogans Kurs nach dem gescheiter­ten Putsch und die Anti-Europa-Politik zeigt sich der Chef des türkischen Unternehme­rverbandes Tüsiad, Erol Bilecik. Immer wieder warnt er vor den Folgen für die türkischen Unternehme­n. Die Tourismusb­ranche leidet bisher noch weitgehend still unter dem erneuten Einbruch der Buchungen für die kommende Saison.

Und die Medien? Unverdross­en kämpft die Zeitung Cumhuriyet gegen Versuche des Staatsappa­rats, sie mit Verhaftung­en und Schikanen zum Schweigen zu bringen. Auch für die verblieben­en regierungs­kritischen Internetpo­rtale wird die Luft immer dünner.

Über allem schwebt die Frage: Was passiert, wenn Erdogan sein Referendum gewinnt?

 ??  ?? Untergesch­oben. Auch der Twitter Account von Boris Becker wurde von Hackern geknackt und für Hasspropag­anda missbrauch­t.
Untergesch­oben. Auch der Twitter Account von Boris Becker wurde von Hackern geknackt und für Hasspropag­anda missbrauch­t.

Newspapers in German

Newspapers from Germany