Afrika hungert – und alle schauen weg
Interview In Somalia, Südsudan, Jemen und Nigeria spielt sich gerade die größte humanitäre Katastrophe seit 1945 ab. Nun kommt es auf jeden Tag und jede Stunde an
20 Millionen Menschen sind in Somalia, Nigeria, Südsudan und Jemen akut vom Hungertod bedroht. UNNothilfekoordinator Stephen O’Brian hat sich mit einem dramatischen Hilfsappell an die Welt gewandt. Sie waren in Somalia, was haben Sie dort erlebt?
Angelika Böhling: Wir sind im Norden Somalias tagelang durch Somaliland gefahren. Es herrscht eine unglaubliche Dürre. Keiner der Menschen dort kann sich erinnern, dass es jemals so schlimm war. Da bahnt sich eine riesige Katastrophe an. Am Wegesrand liegen hunderte Tierkadaver: Ziegen, Schafe, Esel und Kamele. Viele davon sind schon zu Skeletten zerfallen, andere gerade erst frisch aufgedunsen. Und in der Luft hängt der Geruch des Todes.
Erst sterben die Tiere – und dann die Menschen. Wie geht es denen?
Böhling: Die Tiere sind die Lebensgrundlage der Familien in dieser trockenen Region am Horn von Afrika. Sie leben als Viehhirten von ihren Ziegenherden, die 200 bis 500 Tiere groß sind. Wenn die Tiere sterben, verlieren die Menschen ihre Lebensgrundlage. Ich habe eine Frau getroffen, die vier ihrer Kinder ganz alleine mit 50 Ziegen im Dorf zurückgelassen hat. Sie hofft, dass sie mit den Tieren irgendwie überleben können. Mit drei weiteren Kindern und einer einzigen Ziege ist sie wochenlang hunderte Kilometer weit bis in die Hauptstadt Hargeysa gelaufen, um für ihr Dorf Hilfe zu holen. Die Menschen suchen in der Stadt nach Essen und nach Wasser.
Das Hauptproblem ist also Wasser?
Böhling: Ja, das ist das allergrößte Problem in dieser tristen, graubraunen, extrem trockenen Gegend an der Grenze zu Äthiopien. Dort hat es seit zwei Jahren keinen einzigen Tropfen mehr geregnet. Regierung und Hilfsorganisationen versuchen, die Menschen mit Tanklastwagen zu versorgen. Die bringen das Wasser aus der Hauptstadt inzwischen im Drei-Schicht-Betrieb aufs Land.
In der Stadt gibt es genügend Wasser?
Böhling: Es kommt aus sehr tiefen Brunnen, die bis zu 300 Meter in die Tiefe gebohrt werden. Es gibt auch Wasser zu kaufen – den 20-LiterKanister für einen US-Dollar.
Ein hoher Preis in einem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt …
Böhling: Und wenn es jetzt im April wieder nicht regnet, fällt auch in diesem Jahr die Ernte aus. Dann sind sämtliche Vorräte aufgebraucht.
Warum bleibt der Regen aus?
Böhling: Im Südsudan und Nigeria sind der Auslöser der Hungersnot auch politische Konflikte. In Somaliland liegt es vor allem am Klimawandel, dass die Regenzeiten ausbleiben. Das Problem ist also ein menschengemachtes – und wir sind ein Teil davon. Wir Europäer beeinflussen den Klimawandel mit. Darum sind wir auch in der Pflicht, den Menschen in Ostafrika zu helfen.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Böhling: Allein in Somalia benötigt die Hälfte der Bevölkerung humanitäre Hilfe: Das sind mehr als sechs Millionen Menschen. In Somaliland sind 80 Prozent der Familien auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Wie hilft die Kindernothilfe konkret?
Böhling: Wir unterstützen die Wasserversorgung auf dem Land und verteilen Lebensmittel: Mehl, Zucker, Reis und Datteln, die einen Monat lang zur Versorgung einer Familie reichen. An Schulen bieten wir neben Trinkwasser eine Schulspeisung für die Kinder an – auch für die Mädchen und Buben, die längst nicht mehr zur Schule gehen können, weil den Familien das Geld für die Schuluniform und die Bücher fehlt. Außerdem führen wir Hygiene-Trainings durch, damit die Menschen lernen, auch mit wenig Wasser einen bestimmten Hygienestandard einzuhalten, damit ein Cholera-Ausbruch verhindert wird.
UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brian spricht von der größten humanitären Katastrophe seit 1945, die sich in Afrika gerade abspielt.
Böhling: Das stimmt. Es kommt jetzt auf jeden Tag und jede Stunde an. Dazu brauchen wir Spenden, denn sonst werden wir hunderte Menschen sterben sehen.
Bisher ist die Spendenbereitschaft nicht besonders hoch. Woran liegt das?
Böhling: Die Hungersnot in Afrika ist eine immer wiederkehrende Geschichte, die man irgendwie nicht mehr hören kann. Das hat eine Art Murmeltier-Effekt. Außerdem herrscht im Moment auf der ganzen Welt und in eigenen Land sehr viel Unsicherheit. Es gibt viele unbeantwortete Fragen: Wie geht es mit unserer Flüchtlingskultur weiter? Wie geht es in Amerika mit einem Donald Trump weiter? Was hat das für Auswirkungen auf uns? Da sind viele Dinge, mit denen wir uns gerade beschäftigen müssen. Vielleicht ist in den Köpfen der Menschen einfach kein Platz mehr für die Not der Menschen am Horn von Afrika.
Interview: Andrea Kümpfbeck