Mindelheimer Zeitung

Erdogans fromme Gegner

Türkei Vor dem Referendum zur Einführung eines Präsidials­ystems kommen sogar die AKP-Anhänger ins Grübeln

- VON SUSANNE GÜSTEN Foto: Bulent Kilic, afp

Istanbul Ein Lautsprech­erwagen zwängt sich durch die engen Gassen des Istanbuler Stadtteils Kasimpasa. Aus den Boxen dröhnt die WahlHymne der Regierungs­partei AKP, in der Präsident Recep Tayyip Erdogan als Retter des Landes gefeiert wird. Ein paar Dutzend AKP-Anhänger folgen dem Wagen zu einer Kundgebung in der Nähe und schwenken rote und weiße Fahnen mit dem „Ja“für das Verfassung­sreferendu­m am 16. April. Vor ein paar Jahren wäre Ozan noch mit dabei gewesen. Aber heute sitzt der 40-Jährige auf einem Plastikstu­hl am Straßenran­d, schaut der AKPProzess­ion zu und denkt nicht daran, sich auch eine Fahne zu schnappen. Ozan ist Mitglied der AKP und hat jahrelang bei jeder Wahl für Erdogan gestimmt. Aber am 16. April wird er „Nein“sagen.

Wie Erdogan, der in Kasimpasa aufwuchs, ist Ozan ein frommer Muslim und ein stolzer türkischer Patriot. Er bewundert die AKP für ihre Leistungen bei der Modernisie­rung des Landes in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n, für all die neuen Autobahnen, Flughäfen, Brücken und Tunnel. Doch seit ein paar Jahren ist die Partei, die er kannte und mochte, eine andere geworden. „Du darfst die Regierung nicht kritisiere­n, sonst landest du im Knast“, ist eines seiner Beispiele.

Ozan sieht mangelnden Respekt der AKP beim Umgang mit dem Erbe von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk. Er sieht Korruption, die vertuscht wird. Und er sieht die Arroganz einer Regierung, die auf das Volk herabschau­t. Als Kellner verdient Ozan gerade einmal genug, um sich, seine Frau und seine zwei Kinder zu ernähren. Er fühlt sich von Erdogan und der AKP nicht mehr vertreten und will aus der Partei austreten. „Es gibt viele, die so denken wie ich.“

Zwei Wochen vor der Volksabsti­mmung über die Verfassung­sänderunge­n, mit denen sich Erdogan weitreiche­nde Vollmachte­n als Staatsober­haupt sichern will, werden Leute wie Ozan zu einem Problem für den Präsidente­n und die AKP. Und das trotz eines sehr ungleichen Kampfes: Die Regierungs­partei hat die staatliche­n Institutio­nen und die meisten Medien auf ihrer Seite. Dennoch kann der Präsident laut den Umfragen nicht sicher sein, am 16. April mehr als 50 Prozent zu bekommen.

Dass die großen Opposition­sparteien – die säkularist­ische CHP und die prokurdisc­he HDP – für ein „Nein“werben, ist kein Grund zur Sorge für Erdogan. CHP und HDP kommen zusammen auf nicht einmal 40 Prozent der Wählerscha­ft. Aber dass AKP-Stammwähle­r, fromme Kurden und Nationalis­ten mit ihrer Zustimmung zögern, bereitet der Regierungs­partei Kopfzerbre­chen. Die Führung der Nationalis­tenpartei MHP unterstütz­t Erdogan, doch an deren Basis grummelt es gewaltig. Die MHP-Dissidenti­n Meral Aksener schätzt, dass vier von fünf MHP-Wählern Erdogans Plan ablehnen werden. Die Behörden behindern Akseners Wahlkampf für das „Nein“immer wieder mit Auftrittsv­erboten.

„Die MHP ist die Schlüsselo­rganisatio­n“, sagt Aydin Engin, ein altgedient­er Journalist bei der Opposition­szeitung der in den vergangene­n Monaten wie zahlreiche seiner Kollegen vorübergeh­end im Gefängnis saß. Viele in der MHP sind sauer über die Hilfe der Parteiführ­ung für die Präsidialp­läne; Parteichef Devlet Bahceli gelte bei diesen Nationalis­ten als „Knecht“Erdogans, sagt Engin.

Musa, ein Taxifahrer in der Bosporus-Metropole, will mit „ja“stimmen, aber nicht, weil er so begeistert ist vom Präsidials­ystem, sondern weil er die Folgen eines „Neins“fürchtet: „Dann wird die Regierung bestimmt für Chaos sorgen, um doch noch zu kriegen, was sie will.“Aydin Engin befürchtet, dass ein Erfolg für Erdogan am 16. April ein historisch­er Wendepunkt für das Land werden könnte. „Jetzt könnte es unter Erdogan eine Wende um 180 Grad in Richtung asiatische­r Despotismu­s geben.“

Nach Einschätzu­ng von Experten muss bei den Umfragen ein gewisser Anteil der „Ja“-Stimmen infrage gestellt werden, weil viele Menschen aus Furcht vor Repressali­en den Demoskopen nicht ihre wahren Wahlabsich­ten verraten. Der CHPPolitik­er Tacettin Bayir spricht von einem „Reich der Angst“, das die AKP errichten wolle.

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Eine junge Frau passiert ein Plakat, das für ein „Ja“beim Referendum am 16. April wirbt.

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