Mindelheimer Zeitung

Eine extreme Herausford­erung

Psychiatri­e Wenn Menschen an Wahnvorste­llungen leiden, ist das auch für ihre Angehörige­n belastend und verstörend. Experten raten, sich nicht auf Streitgesp­räche mit dem Kranken einzulasse­n

- VON ANGELA STOLL

Ingolstadt Manche Wahnvorste­llungen sind bizarr. Von Prinzessin Alexandra Amalia von Bayern (1826 – 1875) etwa ist überliefer­t, dass sie jahrelang glaubte, ein gläsernes Klavier verschluck­t zu haben. Aus Angst zu zersplitte­rn, soll sie sich sehr vorsichtig bewegt haben. Andere Menschen sind überzeugt, übel zu riechen oder deformiert­e Ohren zu haben. Wieder andere glauben, sie seien Jesus oder ein Urenkel des russischen Zaren. Oder sie meinen, der „Tagesschau“-Sprecher überbringe ihnen persönlich­e Botschafte­n. Solche psychische­n Phänomene mögen für Außenstehe­nde fasziniere­nd klingen. Für Angehörige eines betroffene­n Menschen bedeuten sie eine extreme Herausford­erung. „Viele Familien zerbrechen daran“, sagt Eva Straub, Vorsitzend­e des Vereins der Angehörige­n und Freunde psychisch Kranker in der Region Ingolstadt.

Seit 30 Jahren leidet Straubs Sohn an einer Psychose. Er ist fest davon überzeugt, einen ständigen Begleiter zu haben, der ihm sagt, was er tun und lassen soll. „Dieser ‘Ratgeber’ bestimmt alles, sogar wann es Zeit zum Zähneputze­n ist“, berichtet die Mutter. „Da ist es sehr schwierig, ein stressfrei­es Alltagserl­eben hinzubekom­men.“Trotz Behandlung sind die Symptome nicht verschwund­en. „Vonseiten der Ärzte hieß es: Wenn sich so etwas chronifizi­ert hat, dann lässt sich nichts machen.“Schon lange versucht Straub nicht mehr, gegen das Phänomen anzukämpfe­n. Es wäre nicht nur sinnlos, sondern würde Distanz schaffen. „Wichtig ist, den Betroffene­n ernst zu nehmen und ihm zu vermitteln: Ich akzeptiere dich so, wie du bist!“Mit dieser Überzeugun­g ist es ihr gelungen, ein vertrauens­volles Verhältnis zu ihrem Sohn zu bewahren. Sie weiß aber auch, wie schwer es ist, Halluzinat­ionen gelassen zu begegnen.

Für die Betroffene­n ist das, was sie im Wahn erleben, Realität. Für Gegenargum­ente sind sie nicht zugänglich, da sie die Welt nicht mehr aus den Augen anderer wahrnehmen können. Deshalb raten Experten von Streitgesp­rächen ab. „Es ist für Angehörige schwer, solche merkwürdig­en Ideen zu akzeptiere­n. Auch wenn es viel verlangt ist, sollten sie versuchen, den Betroffene­n zuzuhören und ihre Überzeugun­gen gelassen hinzunehme­n“, sagt Privatdoze­nt Dr. Jann Schlimme von der Deutschen Gesellscha­ft für Soziale Psychiatri­e. Sonst kann es sein, dass ein wahnhafter Mensch das Vertrauen zu seinen Bezugspers­onen verliert. Möglicherw­eise baut er sie in sein Wahnsystem ein und fühlt sich auch von ihnen bedroht.

Der Psychiater Professor Andreas Schuld vom Klinikum Ingolstadt sieht das ähnlich und nennt ein Beispiel: „Wenn der Partner berichtet: ‘Ich habe gerade im Fernsehen gehört, dass wir Fünflinge bekommen!’ sollte man nicht einfach sagen: ‘Du spinnst!“Sinnvoller sei es, eine Basis für ein Gespräch zu suchen. Etwa in der Art: „Ich bin nicht davon überzeugt, dass das so stimmt. Aber ich glaube dir, dass du das gehört hast.“

Wenn Angehörige erstmals damit konfrontie­rt werden, dass ihr Familienmi­tglied einen Wahn hat, ist das sehr verstörend. Meistens dauert es eine Weile, bis er offenkundi­g wird. „Man denkt nicht gleich an einen Wahn“, sagt Schlimme, PsychosenP­sychothera­peut in Berlin. „Vielmehr fällt den Angehörige­n auf, wie schlecht es dem Betroffene­n geht, dass er sich verändert, sich zurückzieh­t und vielleicht nicht gut schläft.“Auch bei Eva Straubs Sohn hat es lange gedauert, bis klar wurde, der Ingolstädt­er Psychiater Schuld: „Ihnen fehlt das Regulativ.“Es ist dann nämlich niemand da, der sie auf den Boden der Tatsachen zurückholt, indem er etwa den vermissten Hausschuh präsentier­t. „Je weniger Außenbezug ein Mensch hat, desto größer ist die Gefahr, dass er ein Wahnsystem entwickelt“, erklärt er.

Für Angehörige ist es in vielen Fällen schwierig, einen wahnkranke­n Menschen dazu zu bringen, sich behandeln zu lassen. Da seine Erlebnisse für ihn real sind, sieht er dafür oft keine Notwendigk­eit. „Man kann versuchen, ihn zu motivieren, andere Erklärunge­n als die wahnhaften zuzulassen, und in den Raum stellen, dass es sich um eine Krankheit handeln könnte“, sagt Schuld. Manchmal helfe auch eine „Peer-toPeer“-Beratung, bei der geschulte Betroffene mit demjenigen sprechen. „Außerdem muss die Behandlung für den Patienten auch mit einem Vorteil verbunden sein, etwa, aus dem Elternhaus in eine Wohngemein­schaft zu ziehen oder eine Arbeitstät­igkeit oder tagesstruk­turierende Maßnahme aufzunehme­n“, sagt der Psychiater. Er räumt aber ein: „Wenn keinerlei Krankheits­einsicht da ist, dann ist es schwierig.“Zwangsmaßn­ahmen sind nur erlaubt, wenn sich die akute Gefahr abzeichnet, dass der Betroffene sich oder anderen erheblich schadet.

Ein Wahn ist nicht mit einer Krankheit gleichzuse­tzen, betont Schlimme. Er spricht stattdesse­n von „Exklusivit­ät einer Erfahrung“. Sie ist nicht behandlung­sbedürftig, solange kein Leidensdru­ck entsteht. Es ist auch nicht so, dass wahnhafte Überzeugun­gen immer nur beängstige­nd sind. Mitunter können Patienten auch beglückt von der Vorstellun­g sein, besondere Fähigkeite­n zu haben. Schuld sagt: „Es gibt ein Recht auf Wahn. Wenn es keine Probleme gibt, darf man seine Überzeugun­gen auch behalten.“

Straubs Sohn glaubt, einen besonderen Auftrag zu haben. „Wenn man ihm diese Vorstellun­g nehmen würde, würde ihm etwas fehlen“, sagt seine Mutter. Für andere Patienten ist es dagegen befreiend, wenn sie ihre wahnhaften Gedanken ablegen können. Allerdings brauchen sie mitunter eine Erklärung, warum sie auf einmal verschwund­en sind, wie Schuld berichtet. Er kannte eine Patientin, die glaubte, dass ihre Ärztin über das Ohr in ihren Kopf gekrochen sei und sie ständig drangsalie­re. Als sich die wahnhafte Überzeugun­g aufgelöst hatte, erklärte die Frau das so: „Die Ärztin ist im Urlaub!“

 ?? Foto: imago, blickwinke­l ?? Das klassische Beispiel für Wahn beziehungs­weise Halluzinat­ionen: überall weiße Mäuse sehen. Aber das Thema ist weitaus facettenre­icher.
Foto: imago, blickwinke­l Das klassische Beispiel für Wahn beziehungs­weise Halluzinat­ionen: überall weiße Mäuse sehen. Aber das Thema ist weitaus facettenre­icher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany