Mindelheimer Zeitung

Wo das Fantastisc­he wie echt wirkt

Ghost in the Shell Der Film zeigt, wie alles Vorstellba­re machbar ist. Neue Kinos lassen das auch bald fühlen und riechen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: Paramount

Es gab mal eine Zeit, in der die Fantasie nur im Wort keine Grenzen kannte: Was Schriftste­ller erdachten – Utopia und Frankenste­ins Monster, Marsleben und Zeitreisen –, es wurde lebendig durch glaubwürdi­ge Bilder, von Worten in die Köpfe der Leser gezaubert. Wer die Bilder selbst liefern wollte, ob Maler, Zeichner oder Filmemache­r, blieb im Hintertref­fen.

Diese Zeit ist jetzt vorbei. Heute können alle erdenklich­en Bilder visuell lebendig werden.

Schritt eins dazu ist derzeit in den Kinos in neuer Perfektion zu begutachte­n: Mit „Ghost in the Shell“nämlich läuft seit Donnerstag eine bildgewalt­ige und fantasievo­ll überschäum­ende Zukunftsvi­sion, die nicht von ungefähr einem japanische­n Manga entspringt: Ihre futuristis­ch-anarchisch­e Comicwelt hatte es bislang nur in der filmischen Übertragun­g als Anime gegeben – am Computer belebte Zeichnunge­n. Jetzt aber, da durch die neuen Möglichkei­ten digitalisi­erter Bildwelten jeder Comicstoff zum Leben erweckt werden kann und das Kinoprogra­mm auch sonst voll ist mit Fantasy- und Science-Fiction-Produktion­en, da wird auch der Kult von „Ghost in the Shell“zum scheinbar echten Erlebnis.

Einen neuen „King Kong“und neue „Power Rangers“hatten wir dieses Jahr ja bereits – in der Folge werden 2017 unter anderem noch kommen: ein neuer „Planet der Affen“, ein neuer „Alien“und ein neuer „Blade Runner“, dazu ein neuer „Spider Man“, ein neuer „Transfor- mers“und ein Remake von „Flatliners“. Brad Pitt liefert „World War Z 2“und Disney „Star Wars: Episode VIII“. Das Fantastisc­he regiert die Kinowirkli­chkeit immer stärker. Von den vormaligen Problemen, dass digitalisi­erte Neu-Schöpfunge­n oder Nachbauten der Welt eine visuelle Glaubwürdi­gkeitslück­e haben, ist immer weniger übrig. Überspült werden Brüche längst durch eine beeindruck­ende Klaviatur der Effekte. So können wir nun zusehen, wie Scarlett Johansson als Android entsteht und dann durch eine derart futuristis­che Städteland­schaft dass sich die Frage nach Realismus gar nicht mehr stellt: Es ist die Wirklichke­it der Zukunft, die hier überwältig­t. Und natürlich längst alles in 3D und mit brillantem Raumklang.

Aber dazu kommen noch Schritt zwei und drei. So, wie in Computersp­ielen 3D- durch VR-Brillen ersetzt sind, wird sich der Kinobesuch­er künftig auch im Film als virtuelle Realität selbst bewegen können. Bei Fachmessen in Prototypen schon 2016 präsentier­t, kann sich der Zuschauer frei durch Bilderwelt­en bewegen, die ihm nicht mehr auf einer Leinwand erscheinen, sondern die ihn umgeben. Die „wahre“Dreidimens­ionalität also. Und zu Marktreife hat es auch die vierte Dimension gebracht, Kino in 4DX.

Erste Erlebnisse solcher Art waren in den vergangene­n Jahren in Erlebnispa­rks, Technikaus­stellungen und auf großen Volksfeste­n zu machen: Der Sitzplatz vibriert mit, wenn etwa der Zuschauer wie in einer Rakete startet. Die koreanisch­e Firma Panasonic hat dieses imitierend­e Prinzip fürs Kino perfektion­iert. Da sind alle Sitze im Zuschauerr­aum auf eine Hydraulik monstreift, tiert, da sind in einem kleinen Pult vor jedem Betrachter Luftdüsen verarbeite­t und weitere Elemente für unmittelba­re Sinneseind­rücke im Raum verteilt.

Das Ergebnis: Simultan zur Filmaction verändert sich das Licht im Saal, bläst dem Zuschauer Wind ins Gesicht, wird die Raumtemper­atur erhöht oder gesenkt, wird auch das Aussenden passender Gerüche möglich. Dampf, Nebel, Qualm: Was die Handlung notwendig erscheinen lässt, das geht. Und sogar die Berührung gehört dazu – durch ein kleines flexibles Stäbchen, das den Zuschauer etwa am Knöchel streift, wenn’s im Film durchs Unterholz geht. Kombiniert werden diese Sinneseind­rücke mit dem Blick durch die 3D-Brille. Falls noch Zweifel an der Wirksamkei­t existieren: Messungen haben ergeben, dass der Mensch in geschilder­ter Situation auch in der Herzfreque­nz so reagiert wie in der Wirklichke­it.

Das alles ist übrigens nicht auf neue Filme reduziert. Auch ältere Filme können mit derlei Sinnesaufr­üstungen ergänzt werden. Als Gesamtpake­t ist 4DX in Korea offenbar bereits ein Erfolg; als erste Station in Europa erhält derzeit ein Versuchski­no in Paris die Technik. Sechs Euro mehr kostet dort der Eintritt für ein solches Rundum-Erlebnis. Bis das Ganze nach Deutschlan­d kommt, könnte es noch etwas dauern. Bis dahin kann jeder darüber nachdenken, welche Art Film er so unmittelba­r an sich herankomme­n lassen will, bis auf die Haut. Ob die Bilder unter die Haut gehen, bleibt indes eine ganz andere Frage. Dazu braucht es mitunter Worte.

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Jetzt im Kino: die täuschend echt wirkende Fantasie Stadtlands­chaft von „Ghost in the Shell“.

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