Plötzlich Opfer
Soziales Cybermobbing kann jeden treffen. Die Täter schlagen virtuell zu, doch die Tränen und die Verzweiflung von Opfern wie Miriam und Sarah sind ganz real
Unterallgäu Das Foto ist dunkel und nicht besonders gelungen, auf den ersten Blick ist kaum zu erkennen, was es zeigt. Trotzdem wird es in wenigen Stunden per WhatsApp zigfach von Handy zu Handy geschickt – und für Miriam (Name geändert) zum Albtraum. Denn unter dem Bild, auf dem der nackte Unterkörper einer Frau und deren Hand zu sehen sind, stehen der Name und die Handynummer der 17-Jährigen. Dass das Bild gar nicht von Miriam ist, sondern einfach aus dem Internet heruntergeladen wurde, spielt da schon längst keine Rolle mehr. Die Welle breitet sich unaufhaltsam weiter aus.
In Gang gesetzt wurde sie über Instagram. Dort hat jemand die Seite „kahbas-mn“eingerichtet, eine Art Pranger für die „Schlampen aus Mindelheim und Umgebung“wie der anonyme Betreiber schreibt. Dort hat jemand das Foto entdeckt, andere auf die Seite hingewiesen, das Bild weiterverschickt. Miriam sitzt unterdessen in der Schule und wundert sich, dass sie ständig Anrufe und WhatsApp-Nachrichten von Fremden bekommt, auf die sie sich keinen Reim machen kann. Als ihr Handy gar nicht mehr stillsteht, ist ihr klar, dass da etwas nicht stimmen kann. Nur was? Die Antwort liefert schließlich eine Freundin, die das Bild bekommen hat und es an Miriam weiterleitet – nicht ohne sich ungläubig zu erkundigen: „Bist das wirklich du?“Dass sie das überhaupt in Betracht zieht, trifft Miriam mindestens so sehr wie das Bild an sich. „Ich hab einfach nur geweint“, erzählt sie. „Das hat mich komplett fertiggemacht. Weil ich wusste ja, dass ich das nicht sein kann – aber alle anderen glauben das.“
Zumal der Unbekannte das Bild geschickt ausgesucht hat: Die Nägel der fremden Frau sind lackiert und auch Miriam trägt gerne Nagellack. Am Handgelenk ist ein schwarzes Armband zu sehen, eines, wie es Miriam früher einmal getragen hat. Wem fällt da noch auf, dass die Finger auf dem Bild kürzer und dicker sind als ihre? Bis nachts um ein Uhr kommen Anrufe und Nachrichten, die anstößigste wie sich später herausstellt von einem 16-jährigen Mädchen. Miriam redet mit ihren Eltern, informiert die Polizei und macht Screenshots, um Beweise zu sichern. Sie will sich das nicht gefallen lassen, sich zur Wehr setzen, auch wenn das kaum möglich scheint. Schließlich hat sie keine Ahnung, wer es da auf sie abgesehen hat. Am nächsten Tag geht sie nicht
zur Schule, am übernächsten stellt sie sich notgedrungen dem Spießrutenlaufen.
Das hat Sarah (Name geändert) nun schon zum zweiten Mal durchgestanden. Die 15-Jährige hat eine Dummheit eingeholt, über die sie heute selbst den Kopf schüttelt. Sie hatte ihrem damaligen Freund eine
von sich geschickt – ohne Kopf zwar, aber als es aus ist und das Bild die Runde macht, genügt den Empfängern völlig, dass Sarahs Name darunter steht. Anders als Miriam weiß sie, wer dahintersteckt, kann aber trotzdem wenig tun: Eine frühere Freundin hat das Foto in Umlauf gebracht, eine „die
früher selber gemobbt wurde und jetzt meint, das ausgleichen zu können“.
Sarahs bester Freund bekommt das Bild und zeigt es ihr. „Zuerst hab ich ihm’s nicht geglaubt. Dann kam noch ein Kumpel. Und dann hab ich angefangen zu weinen.“Sie wendet sich an die VertrauenslehreNacktaufnahme rin und den Rektor, die in die Klasse kommen und die Schüler auffordern, das Foto zu löschen. Doch aus der Welt ist es dadurch noch lange nicht. Sarah schämt sich. Sobald sie mehrere Schüler tuscheln sieht, glaubt sie, sie sprechen über sie. Weil ihre Noten leiden, will sie an einer anderen Schule neu anfangen. Der Start gelingt, doch nur ein halbes Jahr später holt sie das Bild wieder ein: Ein Junge in der Klasse über ihr hat es bekommen und damit die Welle ein zweites Mal in Gang gesetzt. Sarah will nicht noch einmal darin untergehen. „Ich werd jetzt nicht mehr schlecht in der Schule“, sagt sie trotzig. „Wenn man so was öfter durchgemacht hat, wird man kalt und ignoriert das“, sagt sie, aber man spürt, dass das nicht stimmt.
Ein paar derjenigen, die das Foto kennen, hat sie angeschrieben und gefragt, was das Ganze soll. Als Antwort hörte sie meist: „Du bist doch selber schuld, wenn du solche Bilder machst.“Auch Miriam hat früher so gedacht und sehr genau darauf geachtet, was sie über sich preisgibt – und jetzt so etwas. „Es ist ja nichts passiert“, versuchen sie manche zu trösten und wissen vielleicht wirklich nicht, wie falsch sie liegen: Miriams Unbeschwertheit ist weg, ihr Misstrauen enorm. „Immer, wenn jemand was zu mir sagt oder ich eine WhatsApp kriege, denke ich nach, ob da was faul sein könnte“, sagt sie. „Irgendwie ist das immer in meinem Kopf.“Wenn sie am Wochenende weggeht, traut sie sich kaum noch, mit Jungs zu reden. Sie hat Angst, dass es dann heißt: „Schau, das ist der Grund, warum die auf der Seite steht.“Klar könnte Miriam das Gerede der anderen egal sein, aber wem gelingt das schon?
Weil sich ihr Bruder und einige gute Freunde an Instagram gewandt haben, ist die Seite inzwischen gelöscht, „aber der Stempel ist drauf“, sagt Miriams Mutter. „Es bleibt immer was.“Auch das Gefühl, jederzeit wieder zum Opfer werden zu können, diese absolute Hilflosigkeit. „Das ist das wirklich Schlimme dran: Dass man gar nichts machen kann“, sagt Miriam. Selbst wenn der Täter gefunden würde, würde ihr niemand glauben, dass das Foto nicht von ihr stammt, vermutet sie.
Ihre neue Handy-Nummer hat sie nur noch sehr guten Freunden gegeben und damit einige Bekannte vor den Kopf gestoßen. Sie hat Anzeige erstattet, Sarah auch. Beide hoffen, dass die Welle nicht noch einmal über sie hinwegrollt und ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht, einfach so, weil es leicht ist, mit ein paar Klicks und einem Bild, das nicht einmal besonders gut ist.
Alle glauben, dass sie die Frau auf dem Bild ist Die Unbeschwertheit ist weg, das Misstrauen groß