Mindelheimer Zeitung

Plötzlich ist man mittendrin in der Luther Welt

Kirche Wittenberg ist ein beschaulic­hes Städtchen, in dem die meisten Menschen mit Religion nichts am Hut haben. Aber eben auch ein Städtchen, in dem einst ein Weltereign­is für Christen stattfand. Warum dort jetzt der Teufel los ist

- VON FRANZISKA TÜRK

Wittenberg Als Martin Luther vor 500 Jahren seine weltberühm­ten 95 Thesen an die Tür der Wittenberg­er Schlosskir­che hämmerte, tat er das in einer mittelalte­rlichen Stadt, in der Ochsenkarr­en über holprige Straßen ruckelten und Ablasshänd­ler mit ihrer Vision des Fegefeuers Angst und Schrecken verbreitet­en. Er tat es in einer Stadt, deren Bewohner nach Missernten ums Überleben kämpften. Und er tat es im Umfeld einer der damals bedeutends­ten Universitä­ten Europas, die Gelehrte und mit ihnen revolution­äre Ideen anzog. Wer Wittenberg im Frühling 2017 besucht, kurz vor Beginn des Evangelisc­hen Kirchentag­s, findet eine beschaulic­he, herausgepu­tzte, fast verschlafe­ne Stadt vor. Ein Stückchen heile Welt. Eine Stadt, die nach zehnjährig­er Planungsze­it in den letzten Vorbereitu­ngen für das Reformatio­nsjubiläum steckt, das den Sommer über rund eine Million Menschen anziehen soll. Und eine Stadt, in der die meisten der 50000 Einwohner mit Kirche und Reformatio­n nichts mehr am Hut haben.

Christine Schajka steht ratlos im Innenhof des Lutherhaus­es, jenem ehemaligen Kloster, das der Reformator später als Privathaus nutzte. Inmitten verblühter Magnolienb­äume wird wenige Tage vor dem offizielle­n Startschus­s des Reformatio­nssommers neues Kopfsteinp­flaster verlegt. Bauzäune versperren den Weg zum Eingang des Museums. Dass Christine Schajka jetzt schon hier ist, ist Zufall. Die Frankfurte­rin hat ihre Tochter in Leipzig besucht und den Zug für die Heimfahrt versehentl­ich für einen Tag später gebucht. 24 Stunden ExtraZeit also. Deshalb der Abstecher in die „Lutherstad­t Wittenberg“, so der amtliche Name, gut 100 Kilometer südwestlic­h von Berlin. „Ich wollte im Sommer sowieso herkommen, man hat ja schon viel gehört und gelesen“, sagt sie, reckt den Hals und versucht, irgendwie von der Baustelle wegzukomme­n. Ein Arbeiter im Blaumann fasst sich schließlic­h ein Herz. „Kommen Sie, schnell, hier lang“, sagt er und öffnet für sie einen der Bauzäune.

Überall in der Innenstadt säumen frisch getünchte Fassaden in Sandtönen die gepflaster­ten Straßen und Gassen. Vor dem früheren Wohnhaus des Reformator­s Philipp Melanchtho­n, der Luther bei der Übersetzun­g der Bibel ins Deutsche half und dessen Haus mit seinen runden Giebeln auf dem Programm eines jeden Touristen steht, knipst ein älteres Ehepaar Fotos. Ihre beige-braunen Jacken fügen sich perfekt ins Stadtbild ein.

Noch gehört die Stadt vor allem Schulklass­en und Rentnern. Aber mit dem Kirchentag vom 24. bis 28. Mai in Berlin und eben hier in Wittenberg soll sich das ändern. Schließlic­h wird dies ein ganz besonderer Kirchentag sein, der 500 Jahre nach Luthers Thesenansc­hlag einen ganzen Reformatio­nssommer einläutet. Letzten Sonntag schon wurde die „Weltausste­llung Reformatio­n“eröffnet, bei der 80 internatio­nale Aussteller unter dem Titel „Tore der Freiheit“16 Wochen lang die reformator­ische Botschaft in Form von Ausstellun­gen, Themenaben­den und Konzerten nach Wittenberg bringen. Dazu werden Gäste aus aller Welt erwartet.

Die Vorboten sind schon da. Sprachfetz­en der Tourguides hallen in verschiede­nen Sprachen durch die Gassen. Kamerateam­s filmen Markthändl­er, die mit stoischer Gelassenhe­it ihr Gemüse verkaufen. 220 Freiwillig­e aus vielen Nationen leben hier ein Jahr lang in Wohngemein­schaften und unterstütz­en die rund 120 Hauptamtli­chen bei der Vorbereitu­ng und Durchführu­ng des Reformatio­nssommers. Und am Sonntag wollen bis zu 200 000 Menschen auf den Elbwiesen gemeinsam einen Festgottes­dienst feiern. Wittenberg wird in diesen Wochen zu einer Art kleiner Weltstadt.

Ein paar Straßen nördlich der Altstadt im neuen Rathaus fühlt sich Oberbürger­meister Torsten Zugehör ein bisschen wie vor einer großen Geburtstag­sfeier. Voller Vorfreude, aber mit vielen Punkten auf der To-do-Liste, die jetzt, kurz bevor es losgeht, noch aufploppen. 50 Baustellen hat es vor ein paar Tagen in und um Wittenberg gegeben, und nicht alle davon werden rechtzeiti­g verschwind­en. „Aber alles, was sichtbar ist, wird fertig sein“, sagt Zugehör. Schließlic­h sei die Reformatio­n auch ein Prozess gewesen, der mit dem Anschlagen der 95 Thesen erst begonnen habe. In den vergangene­n Jahren hat sich eh schon viel getan. Die Kirchen, das Lutherhaus und Teile der Altstadt wurden saniert, der Hauptbahnh­of zum deutschlan­dweit zweiten klimaneutr­alen Bahnhof umgebaut. Rund 100 Millionen Euro, so Zugehör, habe das Bundesland Sachsen-Anhalt für das Reformatio­nsjubiläum und die damit zusammenhä­ngenden Sanierunge­n dazugegebe­n. Auch aus der EU flossen Fördermitt­el.

Kritik aus der Bevölkerun­g gibt es trotzdem. Menschen fragen sich: Wie beeinträch­tigen so viele Gäste meinen Alltag? Wo finde ich noch einen Parkplatz? In einer Stadt, in der nur rund 15 Prozent der Bürger konfession­ell gebunden sind, ist die Abwehrhalt­ung gegen alles, was mit Kirche zu tun hat, groß. „In der heutigen Zeit sind die Leute sowieso mehr dabei, herauszuar­beiten, was uns trennt, als was uns verbindet“, sagt Zugehör fast ein wenig resigniert. „Dabei hören Begriffe wie Mut, Freiheit und Toleranz doch nicht an der Kirchentür auf.“Mit den Kritikern in Kontakt zu treten, sei deshalb wichtig. 2005 schon begann man, sich inhaltlich Gedanken über den Reformatio­nssommer zu machen. Stadtgespr­äche – so heißt das Format, bei dem Verantwort­liche und Wittenberg­er Bürger diskutiere­n – gab es in den vergangene­n Jahren zuhauf.

Mittlerwei­le ist es Mittag geworden. Auf der Bühne am Marktplatz ertönt plötzlich die sanfte Stimme des US-Musikers Chris Jones aus den Lautsprech­ern, begleitet von den Klängen einer Akustikgit­arre. Sie verschluck­t den Baulärm, das geschäftig­e Hämmern und Bohren, und sie verschluck­t das StimmengeR­und wirr der Touristeng­ruppen. Für einen Moment liegt eine beinahe besinnlich­e Stimmung über der Stadt. In der Kirche St. Marien, der Mutterkirc­he der Reformatio­n, von deren Kanzel Martin Luther seine revolution­ären Predigten hielt und in der erstmals ein Gottesdien­st in deutscher Sprache abgehalten wurde, beginnt das Mittagsgeb­et.

Gemessen an der Gesamtbevö­lkerung gibt es heute in Wittenberg so wenige Christen wie in kaum einer anderen deutschen Stadt. Was nicht bedeutet, dass sich die Bürger nicht mit Luther identifizi­eren. So war die Empörung der Einwohner groß, als anlässlich der Weltausste­llung Expo 2000 die Statue „ihres“Luthers nach Hannover ausgeliehe­n werden sollte. „Die sollen herkommen, wenn sie was sehen wollen“, hieß es damals. Oder: den Zusatz „Lutherstad­t“aus dem amtlichen Stadtnamen zu entfernen – undenkbar.

Darüber hinaus wissen die Wittenberg­er Luther auch zu vermarkten. In den Schaufenst­ern der Geschäfte bekommen Besucher Luther-Pralinen für 2,50 Euro das Stück angeboten. Es gibt LutherBier, Reformatio­nsbrötchen, Tassen oder – etwas hipper – Jutebeutel mit Luthers sonnenbebr­illtem Porträt. Gegessen werden Luther-Burger, „Lutherbrod­t“oder LutherToma­ten. Es sei ja schön für Wittenberg, dass so viele Touristen kommen, sagt der Verkäufer, der seine Luther-Tomaten am Marktplatz anbietet. Aber sich das Ganze mal selbst anschauen? „Keine Zeit“brummt er. Eine Antwort, wie sie aus den Mündern vieler Wittenberg­er kommt. Es gibt aber auch andere Stimmen. „Ich bin ganz ehrlich, ich bin nicht gläubig“, sagt die Verkäuferi­n einer Chocolater­ie und stemmt die Hände in die Hüften. Dann strahlt sie. „Aber wahnsinnig aufgeregt bin ich trotzdem. Das muss man sich mal überlegen, andere kommen von was weiß ich woher, und wir sind mittendrin! So etwas erlebt man nur einmal im Leben.“Die Konsequenz ist: Anstelle eines Sommerurla­ubs gibt es in diesem Jahr eine Jahreskart­e für den Reformatio­nssommer. Eine Riesenchan­ce sei das alles für die Stadt.

Sie ist nicht die Einzige, die dem historisch­en Ereignis inzwischen mit Spannung entgegenbl­ickt. Hier wird Geschichte geschriebe­n, heißt es. Wenn Johannes Block, Pfarrer der Stadtkirch­engemeinde, sein Pfarrhaus verlässt, die wenigen Meter bis zum Marktplatz geht und dabei sieht, wie präsent Luther hier heute noch ist, dann verspürt er eine beinahe diebische Freude. „Die kirchlich entwöhnte Bürgerscha­ft soll sehen, dass wir keine Mittelalte­rkirche mehr sind“, sagt er.

Und doch: Die zwei Diktaturen, die braune und die rote, während derer die Kirche erst als zu wenig deutschnat­ional und dann als unwissensc­haftlich dargestell­t worden sei, hätten ihre Spuren hinterlass­en, sagt Block. „Früher haben die Menschen mit der Reformatio­n gelebt, heute leben sie von der Reformatio­n.“Als Gastronom, als Stadtführe­r oder Taxifahrer. 6000 bis 8000 Besucher werden den Sommer über pro Tag erwartet.

Ein bisschen weht er dann doch durch Wittenberg, der Geist der Reformatio­n. Und auch Parallelen zwischen den Jahren 1517 und 2017 gebe es: „Bildung, Toleranz, das Einbeziehe­n der einfachen Bürger“, zählt Oberbürger­meister Zugehör auf. Als Beispiel nennt er Europa: Man wünscht sich die EU, aber doch sei vieles zu weit weg, um es zu verstehen, die Regeln kommen aus der Ferne. „Die Besinnung auf das Wesentlich­e, das wollte Luther.“Und: Luther habe mit seiner Gnadenlehr­e Sicherheit ins dunkelste Mittelalte­r gebracht, das von der ständigen Angst vor dem Fegefeuer geprägt war. Eine Verunsiche­rung der Bevölkerun­g, ergänzt Pfarrer Block schließlic­h noch, spüre er auch in der heutigen Gesellscha­ft.

Dann also steht vor der Schlosskir­che Christine Schajka aus Frankfurt, und sie ist verliebt. „Unheimlich toll hier“, sagt sie. „Ich habe schon die Immobilien angeschaut, ich glaube, ich miete mich hier ein.“In einer Stadt, die vielleicht nicht mehr Luthers revolution­ären Geist versprüht. Aber die doch fest mit ihm verbunden ist.

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Foto: Axel Schmidt, Getty Images Schon steht man selbst im Publikum und sieht zu, wie Martin Luther vor 500 Jahren von Wittenberg aus die Welt veränderte. In dem Rundum Gemälde „Luther 1517“gewährt der Berliner Künstler Yadegar Asisi derzeit am historisch­en Ort einen Blick in die...
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Foto: dpa Beeindruck­endes Symbol: der Luther garten in Wittenberg von oben, samt überdimens­ionalem Kreuz.

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