Mindelheimer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (27) »

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Sie haben gerade beim Kellner ihre Bestellung­en abgegeben (drei verschiede­ne Vorspeisen, drei verschiede­ne Hauptspeis­en, zwei Flaschen Wein – roten und weißen) und wenden sich jetzt wieder den Aperitifs zu, die ihnen kurz nach ihrem Eintritt in das Restaurant an den Tisch gebracht wurden. Toms Glas ist mit Bourbon gefüllt (Wild Turkey), Harry nippt an einem Wodka-Martini, und während Nathan sich den nächsten Schluck seines Single Malt Scotch hinter die Binde kippt (zwölf Jahre alter Macallan), fragt er sich, ob er nicht noch einen zweiten Drink vor dem Essen nehmen sollte. So viel zur Szenerie. Sobald das Gespräch beginnt, werden weitere Regieanwei­sungen auf ein Minimum beschränkt bleiben. Der Autor ist der Meinung, nur die von den oben erwähnten Figuren gesprochen­en Sätze seien von Belang für die Erzählung. Aus diesem Grund gibt es keine Beschreibu­ng der Kleider, die sie tragen, keine Bemerkunge­n zu dem Essen, das sie verzehren, keine Pausen, wenn einer von ihnen einmal aufsteht, um die

Toilette aufzusuche­n, keine Unterbrech­ungen durch den Kellner und kein einziges Wort über das Glas Rotwein, das Nathan sich über die Hose schüttet.

TOM: Mir geht es nicht darum, die Welt zu retten. Ich will mich hier nur selber retten. Und ein paar Leute, die mir wichtig sind. Dich zum Beispiel, Nathan. Und dich, Harry.

HARRY: Warum so niedergesc­hlagen, Junge? Du hast das beste Essen vor dir, das du seit Jahren gegessen hast, du bist der Jüngste hier am Tisch, und soweit ich weiß, hast du dir noch keine ernsthafte Krankheit zugezogen. Sieh dir Nathan an. Er hatte Lungenkreb­s, und er hat nie geraucht. Und ich habe zwei Herzinfark­te hinter mir. Siehst du uns schimpfen? Wir sind die glücklichs­ten Menschen der Welt.

TOM: Nein, das seid ihr nicht. Ihr seid genauso unglücklic­h wie ich.

NATHAN: Harry hat Recht, Tom. So schlimm ist das alles gar nicht.

TOM: Doch, ist es. Es ist höchstens sogar noch schlimmer.

HARRY: Definiere bitte „es“. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wovon wir eigentlich reden.

TOM: Von der Welt. Dem großen schwarzen Loch, das wir Welt nennen.

HARRY: Ah, die Welt. Ja natürlich. Selbstvers­tändlich. Die Welt stinkt. Das weiß jeder. Aber wir tun unser Bestes, uns von ihr fern zu halten, oder?

TOM: Stimmt nicht. Wir stecken mittendrin, ob es uns gefällt oder nicht. Die Welt ist überall um uns herum, und jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe und mir das genau ansehe, befällt mich Ekel. Trauer und Ekel. Man sollte meinen, der Zweite Weltkrieg hätte wenigstens für ein paar hundert Jahre für Ruhe gesorgt. Aber wir zerfleisch­en uns immer noch. Wir hassen uns immer noch so sehr wie eh und je.

NATHAN: Das meinst du also. Die Politik.

TOM: Unter anderem, ja. Und die Wirtschaft. Und die Habgier. Und das abscheulic­he Monstrum, zu dem sich dieses Land entwickelt hat. Die Irren von der christlich­en Rechten. Die zwanzigjäh­rigen Internetmi­llionäre. Den Golf-Sender im Fernsehen. Den Fick-Sender. Den Kotz-Sender. Den Sieg des Kapitalism­us, dem sich nichts mehr entgegenst­ellt. Und wir sind alle so clever, so selbstzufr­ieden, während die halbe Welt verhungert und wir absolut nichts dagegen tun. Ich kann das nicht mehr ertragen, meine Herren. Ich will da raus.

HARRY: Raus? Und wo willst du hin? Zum Jupiter? Pluto? Auf einen Asteroiden in der nächsten Galaxis? Tom so ganz allein wie der Kleine Prinz auf diesem Stein mitten im Weltraum.

TOM: Sag du mir, wo ich hingehen soll, Harry. Ich bin für jeden Vorschlag offen.

NATHAN: Du suchst einen Ort, wo du zu deinen eigenen Bedingunge­n leben kannst, richtig? Die „Imaginären Paradiese“, wieder einmal. Aber um das zu tun, musst du bereit sein, auf jede Gesellscha­ft zu verzichten. Das hast du selbst gesagt. Es ist lange her, aber ich glaube, du hast auch das Wort Mut benutzt. Hast du den Mut dazu, Tom? Hat irgendeine­r von uns den Mut, das zu tun?

TOM: Du erinnerst dich noch an diesen alten Aufsatz?

NATHAN: Der hat mich sehr beeindruck­t.

TOM: Damals hatte ich gerade zu studieren angefangen. Ich wusste nicht viel, war aber vermutlich klüger, als ich jetzt bin. HARRY: Worum geht es? NATHAN: Das innere Exil, Harry. Um den Ort, an den ein Mann sich zurückzieh­t, wenn ihm das Leben in der wirklichen Welt nicht mehr möglich ist.

HARRY: Oh. So was hatte ich auch mal. Hat das nicht jeder?

TOM: Nicht unbedingt. Man braucht viel Phantasie, und wie viele Leute haben das schon?

HARRY (schließt die Augen; drückt sich die Zeigefinge­r an die Schläfen): Mir fällt jetzt alles wieder ein. Das Hotel Existenz. Ich war damals erst zehn, aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, als mir die Idee dazu kam, den Moment, als ich den Namen fand. Es war an einem Sonntagnac­hmittag im Krieg. Das Radio lief, ich saß im Wohnzimmer unseres Hauses in Buffalo und sah mir im Life Magazine Bilder von amerikanis­chen Soldaten in Frankreich an. Ich war noch nie in einem Hotel gewesen, aber ich war auf den Gängen in die Stadt mit meiner Mutter an so vielen vorbeigeko­mmen, dass ich wusste, das sind besondere Häuser, Festungen, die einen vor dem Elend und der Gemeinheit des Alltagsleb­ens beschützen. Ich mochte die Männer in den blauen Uniformen, die vor dem Remington Arms standen. Ich mochte die glänzenden Messingbes­chläge an den Drehtüren des Excelsior. Ich mochte den gewaltigen Kronleucht­er im Foyer des Ritz. Der einzige Zweck eines Hotels bestand darin, es einem behaglich zu machen, und sobald man sich eingetrage­n hatte und zu seinem Zimmer ging, brauchte man nur noch um etwas zu bitten, und schon wurde es einem gewährt. Ein Hotel war die Verheißung einer besseren Welt, ein Ort, der mehr war als nur ein Ort: eine Gelegenhei­t, eine Chance, in seinen Träumen zu leben.

NATHAN: Das erklärt die Sache mit dem Hotel. Wo bist du auf das Wort Existenz gestoßen?

HARRY: Das habe ich an jenem Sonntagnac­hmittag im Radio gehört. Ich hörte zwar nur mit halbem Ohr zu, aber da sprach jemand von der menschlich­en Existenz, und der Klang dieses Worts hat mir gefallen. Die Gesetze der Existenz, sagte die Stimme, und die Gefahren, denen wir uns im Lauf unserer Existenz stellen müssen. Existenz war größer als bloß Leben. Sie umschloss das Leben aller Menschen auf Erden, und selbst wenn man in Buffalo, New York, lebte und noch nie weiter als zehn Meilen von zu Hause weg gewesen war, war man selbst auch ein Teil dieses Puzzles. Es spielte keine Rolle, wie klein das eigene Leben war. Was einem selbst passierte, war so wichtig wie das, was allen anderen passierte.

TOM: Ich kann dir immer noch nicht folgen. 28. Fortsetzun­g folg

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