Mindelheimer Zeitung

Eine Stadt lässt tief blicken

Griechenla­nd Thessaloni­ki beeindruck­t unterirdis­ch mit seiner Geschichte und oberirdisc­h mit seiner lebenslust­igen Seele

- VON STEPHAN BRÜNJES

„Ah, du willst zunehmen…?“Oder: „Was willst du denn bei den Armen da oben?“Wer nach Thessaloni­ki reist, darf mit reichlich BegleitSpr­üchen rechnen. In Athen und anderen südlichen Teilen Griechenla­nds blicken die Menschen gerne mit einem Mix aus Neid (wegen des guten Essens in Thessaloni­ki) und Überheblic­hkeit auf die zweitgrößt­e Stadt des Landes. Sie liegt auf den ersten Blick da, als umarme sie ihre blaue Bucht: wie ein ausgebreit­eter, scheckiger Poncho wirken Thessaloni­kis Viertel – eng miteinande­r verwachsen und durchzogen von einem kaputten Reißversch­luss, der geschleift­en Stadtmauer, die sich hoch bis ins alte Kastra-Viertel windet. Dieses Vogelpersp­ektiven-Panorama am byzantinis­chen Trigonias-Turm ist abends 1a-Selfie-Sonnenunte­rgangs-Spot und morgens idealer Startpunkt für einen Streifzug durch Nordgriech­enlands mal rummelig-chaotische, mal betörende 325000-Einwohner-Metropole.

Anders als in den meisten Städten liegt Thessaloni­kis historisch­er Kern nicht im Zentrum, sondern am Rande, auf einem Berg. Von hier aus hat sich die 315 vor Christus gegründete Siedlung in Richtung Küste ausgebreit­et. Dorthin geht’s heute zu Fuß, zuerst vorbei an restaurier­tem Altstadt-Fachwerk, durch winkelige, verschlafe­ne Treppen- mit Granatapfe­lbäumen, vorbeihusc­henden Katzen und einer liebenswer­ten Kittelschü­rzen-Omi, die gerade ihre Blumen mit dem Gartenschl­auch wässert. „Old churches, visit old churches“, sagt sie immer wieder und hebt freundlich­mahnend ihren knochigen Zeigefinge­r – wir sollen unbedingt Thessaloni­kis alte Kirchen besuchen. Englisch ist hier für alle Generation­en notgedrung­en so etwas wie zweite Amtssprach­e, schließlic­h kann fast kein Besucher Griechisch lesen, geschweige denn verstehen.

Kirche Nummer 1 hat ’nen Vogel – einen Pfau, im Maschendra­ht-Gehege. Er posiert mit entfaltete­m Gefieder wie ein Model auf dem Laufsteg, gilt als Symbol des Paradieses und ist deshalb „Haustier“vieler griechisch­er Klöster. „Vlatádon“heißt dieses versteckt gelegene – eine herrliche Ruhe-Oase und unfreiwill­iges Mahnmal der fast 500 Jahre währenden Osmanenher­rschaft in Thessaloni­ki: Bald nach der Eroberung der Stadt im Jahre 1430 zerstörten die Muslime viele christlich­e Symbole und Bilder, darunter das Mosaik in der „Vlatádon“-Klosterkap­elle: Es weist bis heute so viele dicht gesetzte Hammer-Einschläge auf, dass der Betrachter nicht das gesamte Bild erfassen kann – wie bei einem unfertigen Puzzle.

Je weiter es runter geht Richtung Zentrum, desto öfter wird der Blick in den schmalen, verkehrsve­rstopften Straßen irritiert durch verwittert­e Wohn- und Büroriegel. Sie sind das Resultat der „Antiparoch­i“(Gegenleist­ung), einer bauherrenf­reundliche­n, aber stadtplane­risch fatalen Initiative der 1960er und 70er Jahre. Motto: Lass dein kleines Häuschen von einem Bauunterne­hmer abreißen und ein größeres, billig und oft illegal gebautes hinsetzen, in dem du dann – eine Hand wäscht die andere – mehrere Etagen zum Vermieten bekommst. Wenn schon Ruinen, dann lieber die in chige Tatorte anderer Besatzer – der Römer: Kaiser Galerius’ Palastruin­en etwa und das Forum Romanum. Und das ist längst nicht alles im Souterrain dieser Stadt: Seit mehr als einem Jahrzehnt soll in Thessaloni­ki eine U-Bahn entstehen – der Bau ist gestoppt, weil Bagger die antike Via Egnatia ausgebudde­lt haben – einst römische Handelsstr­aße zwischen dem heutigen Istanbul und Rom. Wer an den vielen Baustellen durch Gitter in die unterirdis­chen Schächte linst, ahnt, welche Schätze da unten noch auf Archäologe­n warten.

Weiter geht’s zum wohl schönsten Bürgerstei­g-Tischen unter flackernde­n Straßenlat­ernen. „Zeit für was Süßes“, findet Feinschmec­kerin Sespoina jetzt und empfiehlt Trigono, Thessaloni­kis typische Blättertei­gtasche, randvoll gefüllt mit Vanillecre­me – sehr lecker in der Konditorei Konstandin­idis oder einer der 18 Filialen von Bäcker und Patissier „Estia“, etwa am Weißen Turm, Thessaloni­kis Stadtwahrz­eichen und abends Treffpunkt für Pistengäng­er.

Sie ziehen gerne und lange durchs Ladádika-Viertel, früher Heimat der Olivenhänd­ler, heute von Bars und Pubs. Ein ideales Bummel-Revier für alle, die Sound- und Tapetenwec­hsel suchen zwischen Mythos-Bier, Retsina und Tsipouro auf Eis, dem einstigen griechisch­en Arme-Leute-Grappa. Cocktailfa­ns chillen dagegen besser in Hollywoods­chaukeln und Sitzsäcken der Lounges und Clubs an der Straße Iktinou – bei Sirtaki-Samba Mix und bestem Blick auf die Nomaden der Nacht: Scharen der 120 000 Studenten stromern mit Flaschenbi­er vorbei, bringen Thessaloni­ki klönend und lachend, singend und tanzend auf Betriebste­mperatur. Statt Poncho trägt die Stadt nun schwarzes Abendkleid oder Lederjacke: Die Dunkelheit kaschiert manch betonierte Problemzon­e, und in tagsüber eher blassen Straßenzüg­en glüht jetzt das Nachtleben wie etwas zu dick aufgetrage­nes Rouge.

 ?? Foto: Fotolia ?? Die Rotunde aus dem vierten Jahrhunder­t ist umrahmt von Betonhochh­äusern: Thessaloni­ki ist Griechenla­nds zweitgrößt­e Stadt. Sie hat eine reiche Geschichte und so manche Bausünde zu bieten. Vor allem ist sie aber wegen des guten und reichhalti­gen Essens...
Foto: Fotolia Die Rotunde aus dem vierten Jahrhunder­t ist umrahmt von Betonhochh­äusern: Thessaloni­ki ist Griechenla­nds zweitgrößt­e Stadt. Sie hat eine reiche Geschichte und so manche Bausünde zu bieten. Vor allem ist sie aber wegen des guten und reichhalti­gen Essens...
 ?? Foto: Bortnikau/Fotolia ?? Die St. Pauls Kirche von Thessaloni­ki gehört zu den vielen alten sehenswert­en Kir chen der Stadt.
Foto: Bortnikau/Fotolia Die St. Pauls Kirche von Thessaloni­ki gehört zu den vielen alten sehenswert­en Kir chen der Stadt.

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