„Schaut nicht nach rechts!“
Diskussion Ábba Naors Bruder wurde erschossen, nur weil er einkaufen wollte. Der bald 90-Jährige teilt seine Erinnerungen an eine schreckliche Zeit mit Schülern in Bad Wörishofen. Die haben viele Fragen
Bad Wörishofen Er erzählt unaufdringlich und doch intensiv, dramatisch und auch humorvoll. Ábba Naor erzählt die Geschichte einer ganz normalen Familie, seiner Familie, die seit hunderten von Jahren in Litauen lebte. Einer Familie mit Vater, Mutter, seinen 15 und zwei Jahre alten Brüdern, mit ganz freundlichen, liebevollen Nachbarn. Der einzige Unterschied? Diese Nachbarn waren, wie die meisten Litauer, streng katholisch. Und dann kam der Krieg. Mit furchtbaren Folgen für die Familie. Naor ist einer der letzten Zeitzeugen, wird im kommenden Jahr 90 Jahre alt. In der Berufsschul-Außenstelle Bad Wörishofen berichtet er von Unfassbarem, davon wie er 1941 als Dreizehnjähriger die Schrecken des Nationalsozialismus kennenlernte und überlebte, bis er mit 17 Jahren, am 2. Mai 1945, in Waakirchen von den Amerikanern befreit wurde. Bereits in den ersten drei Kriegsmonaten seien von 220 000 Juden in Litauen 140 000 umgebracht worden, sagt Ábba Naor. Menschen seien mit den Synagogen verbrannt und im Wald erschossen worden. Sein fünfzehnjähriger Bruder sei 1941 erschossen worden, weil er sich nicht an die Regeln im Getto hielt – er wollte einkaufen. Das war verboten. Wer sich erwischen ließ, wurde erschossen.
Es ist ein unglaublicher Leidensweg, den Ábba Naor schildert. Er möchte mit seinen fast täglich gehaltenen Erzählungen – er mag es nicht Vortrag nennen – die jungen Menschen erreichen und sagt ihnen: „Schaut nicht nach rechts!“Dafür erhält er spontanen Applaus der Jugendlichen. Er sagt: „Kinder haben ein Recht auf Leben, ganz gleich welcher Religion sie angehören und welche Hautfarbe sie haben.“Sie hätten ein Recht darauf, eine Schule zu besuchen. Er sagt: „Sind es nicht auch heute die Kinder, die das durchleben müssen? Wie würde eine Welt aussehen ohne Kinder?“Nach einer kleinen Atempause sagt er: „Es ist nicht leicht für mich darüber zu reden. Bei jedem Mal muss ich das alles wieder durchleben.“Und er fragt: „Sind wir auch seelisch befreit worden?“Nein, seelisch könne niemand, der das erlebt habe, davon befreit werden. Schon der Gedanke an die schlechte und zu geringe Kost während der Lageraufenthalte stünde ihm täglich vor Augen.
Gesamtschulleiter Reinhard Vetter fragt: „Wie hättet ihr auf die Situation in den Jahren 1933 bis 1938 reagiert?“Damit regt er eine lebhafte Diskussion an, in der Ábba Naor alle Fragen bereitwillig beantwortet. Die Schüler wollen wissen, wie dieser sich nach der Befreiung gefühlt habe. Er sagt: „Der Schmerz bleibt immer da. Wir wollten als normale Menschen angesehen werden. Doch, was ich jetzt mache, ist ja auch nicht normal.“Eine weitere Frage warf die Ausbildung nach der Befreiung auf. Nein, meint Ábba Naor. Er habe keine Ausbildung erfahren, er hatte ja in den wichtigen Jahren keine Schule besucht, für eine Berufsschule zu alt, er habe nur versucht, zu überleben. Es habe nur eine Möglichkeit gegeben Arbeit zu finden: „Ich bin Beamter geworden.“Und wie es mit der Religion sei, wollte ein Schüler wissen. Naor sagt: „Ich bin kein Gläubiger. Ich habe oft zum Himmel aufgeschaut und Gott gefragt. Doch eine Antwort habe ich nie bekommen.“
Nachdem Naor nach dem Krieg seinen Vater wiederfindet, blieb dieser in München. Er selbst ging nach Palästina, wird später Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes Mossad. Er lebt heute in Israel und München.