Mindelheimer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (55)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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„Wenn du es gesehen hast, hättest du es mir sagen sollen, Lucy. Wir hätten das Mädchen fangen und ins Gefängnis bringen können. Und wenn die Männer in der Werkstatt gleich gewusst hätten, wo das Problem zu suchen war, hätten sie das Auto viel schneller reparieren können.“

„Ich hatte Angst“, sagt sie und senkt den Kopf, weil sie mir nicht in die Augen sehen kann. Die Tränen laufen ihr jetzt in Strömen über die Wangen, und ich sehe sie unten auf den Boden tropfen – salzige Vergänglic­hkeiten, glitzernde Kügelchen, die im Augenblick dunkel werden und im Staub verschwind­en.

„Angst? Wovor solltest du Angst haben?“Statt auf meine Frage zu antworten, schlingt sie ihren rechten Arm um mich und birgt ihr Gesicht an meinen Rippen. Ich streiche ihr übers Haar, und als ich ihren Körper an meinem beben spüre, begreife ich plötzlich, was sie mir zu sagen versucht hat. Ein Schock durchzuckt mich, Zorn steigt siedend in mir auf,

verebbt aber wieder und legt sich ganz. Der Zorn weicht Mitleid, und ich weiß, wenn ich jetzt zu schimpfen anfange, verliere ich sie vielleicht für immer.

„Warum hast du das getan?“, frage ich.

„Es tut mir so Leid“, sagt sie, umklammert mich noch fester und heult in mein Hemd. „Es tut mir so furchtbar Leid. Aber ich bin irgendwie durchgedre­ht, Onkel Nat, ich hab kaum gewusst, was ich tue, und dann war’s auch schon passiert. Mama hat mir von Pamela erzählt. Sie ist ein schlechter Mensch, und ich wollte da nicht hin.“

„Ich weiß nicht, ob sie schlecht ist oder was, aber es ist ja nochmal gut ausgegange­n. Was du getan hast, war falsch, Lucy. Das war sehr schlimm, und ich möchte, dass du so etwas nie wieder tust. Aber dieses Mal – dieses eine Mal - hat sich das Falsche als das Richtige herausgest­ellt.“

„Wie kann was Falsches etwas Richtiges sein? Da könnte man auch sagen, ein Hund ist eine Katze, oder eine Maus ist ein Elefant.“

„Hast du schon vergessen, was Al Junior uns von den Bremsen erzählt hat?“

„Nein, das weiß ich doch. Ich habe dir das Leben gerettet, oder?“

„Und dir selbst. Und Onkel Tom.“

Endlich löst sie sich von meinem Hemd, wischt sich die Tränen aus den Augen und sieht mich lange und nachdenkli­ch an. „Sag Onkel Tom bitte nichts davon, ja?“„Warum nicht?“„Weil er mich dann nicht mehr gern hat.“„Aber nein.“„Doch, bestimmt. Und ich will, dass er mich gern hat.“

„Ich hab dich doch auch noch gern.“„Du bist anders.“„Inwiefern?“„Ich weiß nicht. Du nimmst nicht alles so ernst wie Onkel Tom. Du bist nicht so streng.“

„Das ist nur so, weil ich älter bin.“

„Sag es ihm bitte nicht. Schwör mir, dass du es ihm nicht sagst.“„Na schön, Lucy. Ich schwör’s.“Jetzt lächelt sie, und zum ersten Mal, seit sie am Sonntagmor­gen aufgetauch­t ist, sehe ich ihre Mutter als junges Mädchen vor mir. Aurora. Die abwesende Aurora, verscholle­n im mythischen Land Carolina Carolina, eine Schattenfr­au außer Reichweite der Lebenden. Wenn sie jetzt überhaupt irgendwo ist, dann im Gesicht ihrer Tochter, in der Treue dieses Mädchens, in Lucys ungebroche­nem Verspreche­n, uns nicht zu sagen, wo sie sich aufhält.

Endlich ist Tom aufgestand­en. Seine Verfassung ist für mich schwer zu deuten, sie schwankt zwischen düsterer Zufriedenh­eit und nervöser, unbehaglic­her Befangenhe­it. Beim Mittagesse­n erwähnt er die Ereignisse der vergangene­n Nacht mit keinem Wort, und so neugierig ich bin, von ihm etwas Genaueres zu erfahren, sehe ich davon ab, irgendwelc­he Fragen zu stellen. Hat er sich ernsthaft in die überschwän­gliche Miss C. verliebt, frage ich mich, oder ist sie für ihn nur ein flüchtiges Abenteuer? Geht es um Sex und nichts als Sex, oder sind da auch Gefühle im Spiel? Nach dem Essen zieht Lucy mit Stanley los, um mit ihm Traktor zu fahren und ihm beim Rasenmähen zu helfen. Tom geht zum Rauchen auf die Veranda, und ich setze mich auf den Stuhl neben ihm.

„Wie hast du geschlafen, Nathan?“, fragt er.

„Ganz gut“, antworte ich. „Wenn man bedenkt, wie dünn die Wände sind, hätte es sehr viel schlimmer sein können.“ „Das habe ich befürchtet.“„Ist doch nicht deine Schuld. Du hast das Haus nicht gebaut.“

„Ich hab ihr immer wieder gesagt, sie soll leiser sein, aber du weißt ja, wie das ist. Wenn jemand erst mal in Fahrt ist, kann man nichts mehr dagegen machen.“

„Halb so wild. Ehrlich gesagt war ich sogar froh. Ich hab mich für dich gefreut.“

„Ich mich auch. Wenigstens mal für eine Nacht war ich glücklich.“

„Es kommen noch mehr Nächte, Alter. Das war erst der Anfang.“

„Meinst du? Sie ist heute Morgen sehr früh gegangen, und als sie hier war, haben wir auch nicht grade viel miteinande­r gesprochen. Ich habe keine Ahnung, was sie wirklich will.“

„Wichtiger wäre zu wissen: Was willst du?“

„Dafür ist es noch zu früh. Das ist alles so schnell passiert, dass ich noch gar nicht darüber nachdenken konnte.“

„Du hast mich zwar nicht gefragt, aber meiner Meinung nach passt ihr zwei sehr gut zusammen.“

„Ja. Zwei Moppel beim nächtliche­n Doppel. Ich staune selbst, dass das Bett nicht zusammenge­brochen ist.“

„Honey ist nicht dick. Sie ist das, was man ,stattlich› nennt.‘“

„Sie ist nicht mein Typ, Nathan. Zu grob. Zu selbstsich­er. Zu allem eine Meinung. Solche Frauen haben mich noch nie angezogen.“

„Gerade deswegen wäre sie gut für dich. Sie würde dich auf Trab halten.“

Tom schüttelt seufzend den Kopf. „Das kann niemals gut gehen. Nach spätestens einem Monat wäre ich fix und fertig.“

„Du willst also schon nach einer Nacht aufgeben.“

„Daran ist doch nichts Schlimmes. Eine gute Nacht, und das war’s.“

„Und was, wenn sie wieder zu dir ins Bett kriecht? Schmeißt du sie dann raus?“

Tom hält ein Streichhol­z an seine zweite Zigarette und denkt gründlich nach. „Ich weiß nicht“, sagt er schließlic­h. „Warten wir’s ab.“

Leider bekommt weder Tom noch sonst jemand die Chance, irgendetwa­s abzuwarten.

Denn eine letzte Überraschu­ng erwartet uns, und diese erweist sich als so gewaltig, so schmerzlic­h, so ungeheuer in ihren Konsequenz­en, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als noch an diesem Nachmittag das Weite zu suchen. Unsere Ferien im Chowder Inn nehmen ein jähes und verwirrend­es Ende. Adieu, Hügel. Adieu, Rasen.

»56. Fortsetzun­g folgt

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