Mindelheimer Zeitung

Recherche mit Schusswest­e Der amerikanis­che Krimiautor Don Winslow ist für seinen neuen Thriller „Corruption“mit der New Yorker Polizei Streife gefahren

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Für die Recherche Ihres neuen Thrillers sind Sie zurück in Ihre alte Heimat New York City gekommen – wie war das Wiedersehe­n?

Winslow: Ein großes Abenteuer! Ich bin stundenlan­g durch die Straßen gestreift, habe meine früheren Lieblingsp­lätze besucht, mit Gangstern, Drogendeal­ern und Polizisten gesprochen. Da sich mein Roman vor allem um den Alltag eines EliteCops und seiner Einsatztru­ppe dreht, habe ich besonders viel Zeit mit Polizisten und ihren Familien verbracht. Am besten war, dass ich bei ihren Einsätzen mitfahren durfte: Verhaftung­en, Razzien, Schießerei­en – ich habe alles aus nächster Nähe mitverfolg­t.

Hatten Sie keine Angst?

Winslow: Überhaupt nicht. Ich bekam eine schusssich­ere Weste und wusste, dass die Cops mich im Ernstfall beschützen würden. Außerdem kannte ich ja die Gegend. Ich bin das Leben auf der Straße von früher gewohnt. Ich habe mitten in Harlem gewohnt, und um mich herum gab es täglich Überfälle und Morde. Ich bin in dieselben Kneipen und Bars wie Dealer, Cops, Nutten und Künstler gegangen. In gewisser Weise habe ich also schon mein ganzes Leben für dieses Buch recherchie­rt. Den ersten Entwurf von „Corruption“hatte ich dann auch extrem schnell fertig, geradezu als ob ich Angst gehabt hätte, vorher geschnappt zu werden. Aber natürlich ist jeder Roman mehr ein Marathon als ein Sprint und es gibt Zeiten, da läuft es nicht so gut. Da muss man durch.

Ihre Lieblingse­rinnerung an New York?

Winslow: Drei Uhr morgens in einer heißen Julinacht. Ich gehe müde zu Fuß nach Hause, den Broadway hoch, und bei einem Buchladen an der Ecke stehen alle Fenster offen. Von drinnen dröhnt die Stimme von Edith Piaf auf Schallplat­te nach draußen, und auf der Straße stehen überall Leute, die wie ich fasziniert zuhören. Das war unglaublic­h, aber typisch für New York. Ich liebe diese Stadt, auch wenn sie sich inzwischen stark verändert hat.

Sie schreiben, dass Korruption zur DNA New Yorks gehört. Wie meinen Sie das?

Winslow: Die Stadt wurde schon mit einem Betrug gegründet, als sie für 24 Dollar in Perlen von den Ureinwohne­rn gekauft wurde. Danach wurde New York von Grund auf Be- stechung erbaut – es gibt keinen einzigen Stein, für den nicht irgendjema­nd seinen Anteil bekommen hat. Ladeninhab­er und Barbetreib­er haben schon immer Schutzgeld an Gangs gezahlt, auch an die Polizei. Für viele Jahre war die „Mafiasteue­r“in der Baubranche ein offenes Geheimnis, und jeder wusste, dass man für Beton, Gips und sogar für die Arbeiter extra zahlen musste, denn die Mafia kontrollie­rte sogar Gewerkscha­ften. Ich bin mir auch gar nicht sicher, dass diese Zeiten vorbei sind. Viele Experten meinen, dass die Mafia vor einem großen Comeback steht. Kein Wunder, denn Geld wird in New York ständig von einer Tasche in die nächste geschoben. Zurzeit haben wir wieder einen großen NYPD-Skandal: Hochrangig­e Polizisten haben von reichen Bürgern Geschenke angenommen, und ihnen danach Gefälligke­iten erwiesen.

Trotzdem gilt New York heute als sauber und vergleichs­weise friedlich. Es heißt, die Kriminalit­ät sei kein großes Problem mehr.

Winslow: Das ist natürlich Quatsch. Solange es Armut gibt und die Drogen nicht legalisier­t werden, wird es immer Gangs und Verbrechen geben. Fast alle großen Verbrechen hängen mit dem Drogenhand­el zusammen.

Was würde eine Legalisier­ung denn bringen?

Winslow: Man muss den unglaublic­h hohen Profit, der im Drogenhand­el gemacht wird, vernichten. Durch die Legalisier­ung würde man den Kartellen und Dealern die Macht entziehen und könnte als Staat selbst Kontrolle übernehmen. In der Folge würden die Morde zurückgehe­n. Aber es müsste noch viel mehr passieren: Hört endlich auf, Kleinkrimi­nelle in den Knast zu stecken! Unser Justizsyst­em ist eine Maschine, die einen konstanten Zufluss von Öl in Form von Verhaftung­en braucht, um sich selbst zu erhalten. Und es wird immer schlimmer: „Gefängnisp­rivatisier­ung“ist das traurigste Wort unserer Zeit, denn es beweist, dass wir das Einsperren unserer Bürger kommerzial­isieren.

„Wir sind alle korrupt“sagt die Hauptfigur Ihres neuen Thrillers, der Elite-Polizist Denny Malone. Hat er recht?

Winslow: In seiner Welt in New York sind tatsächlic­h alle korrupt. Er beobachtet das jeden Tag, wenn er mit seiner Sondereinh­eit durch Harlem zieht und Verbrecher jagt. Das ist eine der moralische­n Gefahren seines Jobs: man glaubt, dass jeder trickst, lügt, bestechlic­h ist und Hintergeda­nken hat. Außerdem sehen Malone und seine Truppe ständig, welch riesige Summen im Drogenhand­el verdient werden – das verführt. Ich sehe das etwas differenzi­erter – jeder von uns hat den Samen der Korruption in sich, aber entscheide­nd ist, ob man ihn keimen lässt.

Hat man Ihnen schon einmal Geld geboten, um in einer bestimmten Weise zu schreiben?

Winslow: Verleger haben mir zumindest hohe Summen versproche­n, wenn ich endlich mal einen ganz normalen, banalen Krimi schreibe. Aber darauf habe ich einfach keine Lust! Man hat mir oft gesagt, dass ich zu düster, politisch, brutal, verschrobe­n und komplex schreibe, und dass meine Karriere bald am Ende ist. Zum Glück ist es anders gekommen – und ich bin meinem Stil treu geblieben.

Sie scheuen sich nicht, auch positiv über Gangster und bestechlic­he Polizisten zu schreiben. Mögen Sie denn Ihre fragwürdig­en Figuren?

Winslow: Das ist nicht leicht zu beantworte­n. Es mag seltsam klingen, aber wenn ich schreibe, bemühe ich mich ganz bewusst, nicht objektiv zu sein. Meine Aufgabe besteht nicht darin, mit Distanz aufs Geschehen zu blicken und es zu kommentier­en, sondern in die Köpfe meiner Figuren zu gehen und dafür zu sorgen, dass meine Leser alles durch deren Augen sehen. Zweifellos tun meine Figuren grenzwerti­ge, unangemess­ene Dinge, aber es ist völlig egal, wie ich darüber denke. Wichtig ist nur, wie sie darüber denken. Erst dann können meine Leser ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.

Ihre Protagonis­ten konsumiere­n Drogen, um Höchstleis­tungen bringen zu können – was brauchen Sie, um ein Werk wie „Corruption“schreiben zu können?

Winslow: Kaffee. Immer wieder Kaffee, frisch gemahlen. Ich gebe gerne zu, dass ich davon abhängig bin und mich auch nicht behandeln lassen möchte. Aber natürlich treibt mich nicht nur das Koffein voran: Ich war schon immer verrückt danach zu schreiben.

Interview: Günter Keil

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„Das Kartell“und „Tage der Toten“zählen zu Don Wins lows Klassikern – umfangreic­he Thriller über die mexi kanischen Drogenkart­elle und den Kampf der USA ge gen den Drogenhand­el. Mit seinen 20 Romanen zählt der 62 Jährige zu den wichtigste­n Krimiautor­en...
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Seine Karriere
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