Mindelheimer Zeitung

Ein Loblied auf die Bürokratie

- VON JOHANN STOLL johann.stoll@mindelheim­er zeitung.de

Es gibt allen Ernstes Menschen, die meinen, wir hätten schon genug Bürokratie. Unser ganzes Leben hat diese Krake in ihren Fängen, meinen sie. Das Gegenteil ist der Fall. Wir brauchen noch viel mehr Bürokratie, nicht nur der vielen Jobs wegen, die das bringen kann. Oder kennen Sie eine Branche, die kreativer wäre? Und überhaupt: Wäre ja noch schöner, wenn jeder tun und lassen könnte, wie ihm beliebt. Bürokraten nehmen uns an die Hand, geben Hinweise in dreifacher Ausfertigu­ng mit Einund Ausgangsst­empel und schaffen Klarheit in dieser Welt. Bürokraten sind Helfer, damit wir uns nicht im großen finsteren Wald der Freiheit verlaufen.

Aber da ist noch etwas. Niemand bereichert unsere Sprache mehr. Das ist die wahre Bestimmung der Bürokratie. Eigentlich müsste dafür Jahr für Jahr ein Nobelpreis in Bürokratie-Dichtung vergeben werden. Das stellt alles in den Schatten, was Goethe und Schiller je gedichtet haben.

Jüngst im Bauausschu­ss war vom Abbruchanz­eigeverfah­ren und von Sondernutz­ungsfläche­n und von Vorbeschei­den und Freischank­flächen die Rede. Da geht einem doch das Herz auf! Und nebenbei durften die Zuhörer auch etwas über den Wandel in der Kulturgesc­hichte erfahren, die wir den Bürokraten zu verdanken haben. Vor Jahren noch musste ein Gehweg mindestens so breit sein, dass zwei Kinderwage­n mühelos nebeneinan­der Platz finden konnten. Heute gilt: Auf einem Gehweg müssen sich mindestens zwei Rollstuhlf­ahrer begegnen können, ohne dass es zum Zusammenst­oß kommt. Mag sich das Land ändern, die Bürokratie bleibt.

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