Paul Auster: Die Brooklyn Revue (63)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Rufus ist nicht mehr da, das heißt, du hast keinen Verkäufer. Und du kannst es dir nicht leisten, einen neuen einzustellen. Wovon willst du ihn bezahlen?
Zum ersten Mal in all den Jahren, die ich ihn kannte, geriet Tom in Zorn. „Scheiß drauf, Nathan“, sagte er. „Ist doch völlig egal. Mir fällt schon was ein. Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten, okay?“
Aber Toms Angelegenheiten waren auch meine, und es schmerzte mich, ihn in solchen Schwierigkeiten zu sehen. Daher bot ich ihm nun selbst meine Dienste an – zum symbolischen Lohn von einem Dollar im Monat. Ich könnte für Rufus einspringen, sagte ich, und meinen Ruhestand bis auf weiteres aussetzen, um die zeitraubende Arbeit eines Verkäufers in Brightman’s Attic zu übernehmen. Wenn Tom daran gelegen sei, würde ich ihn auch gern mit Boss anreden.
Und so begann eine neue Epoche in unserem Leben. Ich meldete
Lucy für ein Sommercamp der Berkeley Carroll School am Lincoln Place an, und jeden Morgen, nachdem ich sie die siebeneinhalb Blocks von meiner Wohnung zum Camp begleitet hatte, schlenderte ich zurück und nahm meinen Platz an der Ladenkasse ein. Die Arbeit an meinem Buch menschlicher Torheiten litt natürlich unter diesem veränderten Tagesablauf, dennoch machte ich weiter, so gut es ging, schrieb spätabends, wenn Lucy sich schlafen gelegt hatte, und wenn im Geschäft nichts los war, konnte ich auch die eine oder andere Viertelstunde zum Schreiben abzweigen. Zu meinem großen Bedauern fiel das tägliche Mittagessen mit Tom jetzt flach. Es war einfach keine Zeit mehr für ausgiebige Mahlzeiten im Sitzen, und so lebten wir fortan aus der Tüte, aßen unsere Sandwiches und tranken unseren Eiskaffee in der stickigen Enge des Antiquariats, verputzten das alles in wenigen Minuten. Um vier Uhr befreite mich Tom von meinen Pflichten hinter der Kasse, damit ich Lucy abholen konnte. Dann brachte ich sie in den Laden, und bis wir um sechs Uhr zumachten, vertrieb sie sich die Zeit mit der Lektüre irgendeines der viertausendzweihundert Bücher, die in den Regalen des Geschäfts zum Verkauf standen.
Lucy blieb mir ein Rätsel. In vieler Hinsicht war sie ein Musterkind, und je besser wir uns kennen lernten, desto mehr mochte ich sie, desto lieber hatte ich sie in meiner Nähe. Von dem Rätsel, das ihre Mutter mir aufgab, einmal abgesehen, gab es über unser Mädchen tausend positive Dinge zu sagen. Vollkommen unbekannt mit dem Großstadtleben, passte sie sich der neuen Umgebung schnell an und fühlte sich nahezu im Handumdrehen in unserem Viertel zu Hause. Wo auch immer Carolina Carolina liegen mochte, die einzige Sprache, die dort gesprochen wurde, war Englisch. Jetzt aber drangen, wenn wir bei unseren Spaziergängen auf der Seventh Avenue an der chemischen Reinigung vorbeikamen, am Lebensmittelladen, an der Bäckerei, am Schönheitssalon, am Zeitungskiosk, am Coffeeshop, alle möglichen verschiedenen Sprachen auf sie ein. Sie hörte Spanisch und Koreanisch, Russisch und Chinesisch, Arabisch und Griechisch, Japanisch, Deutsch und Französisch, doch statt sich davon einschüchtern oder verwirren zu lassen, frohlockte sie über diese Vielfalt menschlicher Töne. „So möchte ich auch reden können“, sagte sie eines Morgens, als wir an einer offenen Haustür vorbeigingen und Zeuge wurden, wie eine dicke kleine Frau einen alten Mann anschrie. „Mira! Mira! Mira!“, äffte Lucy die Frau mit unheimlicher Treffsicherheit nach. „Hombre! Gato! Sucio!“Eine Minute später kopierte sie ganz ähnlich einen Mann, der jemandem auf der anderen Straßenseite etwas auf Arabisch zurief - Worte, die ich nicht hätte aussprechen können, und wenn es um mein Leben gegangen wäre. Die Kleine hatte ein feines Gehör, sie hatte Augen, mit denen sie sehen, einen Kopf, mit dem sie denken, und ein Herz, mit dem sie fühlen konnte. Im Camp hatte sie keine Schwierigkeiten, Freunde zu finden, und schon am Ende der ersten Woche war sie von drei verschiedenen Mädchen zum Spielen nach Hause eingeladen worden. Sie schreckte nicht vor meinen Gutenachtküssen und Umarmungen zurück; sie mäkelte nie am Essen herum; sie machte überhaupt fast nie große Umstände. Trotz ihrer oftmals grauenhaften Grammatik (die ich nicht zu korrigieren beschloss) und trotz der Verbohrtheit, mit der sie im Fernsehen nichts anderes als Zeichentrickfilme sehen wollte (hier sprach ich ein Machtwort und schränkte ihren Konsum auf eine Stunde pro Tag ein), bereute ich es keine Sekunde, dass ich sie bei mir aufgenommen hatte.
Dennoch blieb die beunruhigende Tatsache ihrer Weigerung, irgendetwas von ihrer Mutter zu erzählen. Aurora war das Gespenst, das über unseren kleinen Haushalt herrschte, und ganz gleich, wie oft ich Lucy fragte, ganz gleich, wie oft ich ihr die kleinste Information zu diesem Thema zu entlocken versuchte, es führte mich keinen Schritt weiter. Gewiss hatte eine solche Willensstärke bei einem so jungen Menschen etwas Bewundernswertes, mich aber regte es auf, und je länger sich dieses Patt hinzog, desto größer wurde meine Frustration.
„Deine Mutter fehlt dir bestimmt sehr, Lucy, oder?“, fragte ich sie eines Abends.
„Sie fehlt mir ganz schrecklich“, sagte sie. „Sie fehlt mir so sehr, dass mir das Herz wehtut.“
„Du möchtest sie gern wiedersehen?“
„O ja. Ich bete jeden Abend zu Gott, dass sie zu mir zurückkommt.“
„Das wird sie. Du brauchst mir nur zu sagen, wo wir sie finden können.“
„Das darf ich nicht, Onkel Nat. Das habe ich dir schon so oft gesagt, aber anscheinend hörst du mir nie richtig zu.“
„Ich höre dir zu. Ich will doch nur, dass du nicht mehr traurig bist.“
„Ich kann nicht darüber reden. Ich hab’s versprochen, und wenn ich mein Versprechen breche, muss ich in der Hölle braten. Die Hölle ist für ewig, und ich bin noch ein kleines Mädchen. Ich bin noch nicht so weit, dass ich ewig braten will.“
„Es gibt keine Hölle, Lucy. Und du wirst nicht braten, nicht mal eine Minute lang. Alle haben deine Mutter gern, und wir wollen ihr nur helfen.“
„Falsch. So ist das nicht. Bitte, Onkel Nat. Frag mich nicht mehr nach Mama aus. Es geht ihr gut, und eines Tages kommt sie zurück zu mir. Das weiß ich genau, und mehr kann ich dir nicht sagen. Wenn du weiterfragst, werde ich wieder so wie damals, als ich hierher gekommen bin. Dann mache ich den Mund zu und sag kein Wort mehr zu dir. Und was würde uns das bringen? Es ist so schön, wenn wir uns unterhalten. Solange du mich nicht nach Mama fragst, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Als mit dir zu reden, meine ich. Ich finde dich unheimlich nett. Müssen wir uns denn diese Freude verderben?“ »64. Fortsetzung folgt