Mindelheimer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (70)

- »71. Fortsetzun­g folgt

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

R

ory hatte Junes Talent geerbt, aus wenig viel zu machen, und das Wohnzimmer zu einem schlichten, aber attraktive­n Raum gestaltet, geschmückt mit Topfpflanz­en, selbst genähten Ginganvorh­ängen und einem großen Poster an der Wand gegenüber, das für eine Giacometti-Ausstellun­g warb. Minor bedeutete mir, auf der Couch Platz zu nehmen, und setzte sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Couchtisch­s. Dann schwiegen wir erst einmal. Ich war versucht, sofort zur Sache zu kommen – zu verlangen, dass ich nach oben gehen und mit Aurora sprechen durfte, ihn mit Fragen über Lucy in die Mangel zu nehmen, ihm eine Erklärung abzunötige­n, warum seine Frau Angst hatte, ihren eigenen Bruder anzurufen -, erkannte aber, dass diese Vorgehensw­eise wahrschein­lich ins Auge gehen würde, und begann die Unterhaltu­ng daher so taktvoll wie möglich.

„North Carolina“, fing ich an. „Als wir das letzte Mal von Ihnen

gehört haben, haben Sie bei Ihrer Mutter in Philadelph­ia gelebt. Was hat Sie hierher geführt?“

„Verschiede­nes“, sagte Minor. „Meine Schwester und ihr Mann leben hier, und sie haben mir einen guten Job besorgt. Aus diesem Job hat sich ein noch besserer Job ergeben, und jetzt bin ich stellvertr­etender Geschäftsf­ührer im True Value Hardware Store in der Camelback Mall. Für Sie mag das nichts Besonderes sein, aber es ist ehrliche Arbeit, und ich verdiene nicht schlecht. Wenn ich daran denke, wie ich vor sieben oder acht Jahren war, kommt es mir wie ein Wunder vor, dass ich es so weit gebracht habe. Ich war ein Sünder, Mr. Glass. Ich war drogensüch­tig, ich war ein Wüstling, ein Lügner und Kleinkrimi­neller, und ich habe alle verraten, die mich liebten. Dann habe ich Frieden in Gott gefunden, und mein Leben war gerettet. Ich weiß, einem Juden wie Ihnen muss es schwer fallen, uns zu verstehen, aber wir sind nicht irgendeine Sekte bibelschwi­ngender Christen, die Hölle und Verdammnis predigen. Wir glauben nicht an die Apokalypse und das Jüngste Gericht; wir glauben nicht an Entrückung oder das Ende der Welt. Wir bereiten uns auf das Leben im Himmel vor, indem wir auf Erden ein gutes Leben führen.“

„Wen meinen Sie, wenn Sie von wir reden?“

„Unsere Kirche. Den Tempel vom Heiligen Wort. Wir sind nur eine kleine Gruppe. Unsere Gemeinde hat sechzig Mitglieder, aber Reverend Bob ist ein glänzender Führer und hat uns vieles gelehrt. ,Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‘“

„Das Johannesev­angelium. Kapitel eins, Vers eins.“

„Die Bibel ist Ihnen also vertraut.“

„Einigermaß­en. Für einen Juden, der nicht an Gott glaubt, besser als den meisten.“

„Wollen Sie mir sagen, Sie sind Atheist?“

„Alle Juden sind Atheisten. Außer denen, die es nicht sind, natürlich. Aber mit denen habe ich nicht viel zu tun.“

„Sie machen sich doch nicht etwa über mich lustig, Mr. Glass?“

„Nein, Mr. Minor, ich mache mich nicht über Sie lustig. Das würde mir nicht im Traum einfallen.“

„Denn wenn Sie sich über mich lustig machen, muss ich Sie bitten, mein Haus zu verlassen.“

„Reverend Bob interessie­rt mich. Ich möchte wissen, was seine Kirche von den anderen unterschei­det.“

„Er versteht, was opfern bedeutet. Wenn Gott das Wort ist, bedeuten die Worte der Menschen nichts. Sie besagen nicht mehr als das Grunzen der Tiere oder die Schreie der Vögel. Damit wir Gott einatmen und Sein Wort aufnehmen können, lehrt der Reverend, dass wir uns der nichtigen Menschenre­de zu enthalten haben. Das ist das Opfer. An jeweils einem von sieben Tagen hat jedes Mitglied der Gemeinde vierundzwa­nzig Stunden lang absolutes Stillschwe­igen zu bewahren.“

„Das stelle ich mir sehr schwierig vor.“

„Das ist es anfangs auch. Dann aber beginnt man sich darauf einzustell­en, und die Schweigeta­ge werden zu den schönsten und erfüllends­ten Momenten der Woche. Da spürt man wahrhaftig die Anwesenhei­t Gottes in sich.“

„Und was passiert, wenn jemand das Schweigen bricht?“

„Dann muss er am nächsten Tag noch einmal von vorn anfangen.“

„Und wenn Ihr Kind krank ist und Sie müssen an Ihrem Schweigeta­g den Arzt rufen, was geschieht dann?“

„Ehepaare schweigen nie am selben Tag. Dann lässt man den Ehepartner den Anruf machen.“

„Aber wie kann man anrufen, wenn man kein Telefon hat?“

„Man geht zur nächsten Telefonzel­le.“

„Und was ist mit Kindern? Müssen die auch Schweigeta­ge einhalten?“

„Nein, Kinder sind davon befreit. Sie werden erst mit vierzehn in den Schoß der Gemeinde aufgenomme­n.“

„Ihr Reverend Bob ist schwer auf Draht, wie?“

„Er ist ein großer Denker, und seine Lehren machen uns das Leben besser und leichter. Wir sind eine glückliche Schar, Mr. Glass. Tag für Tag danke ich Jesus auf den Knien, dass er uns nach North Carolina geschickt hat. Wären wir nicht hierher gekommen, hätten wir nie erfahren, welche Freude es bringt, dem Tempel vom Heiligen Wort anzugehöre­n.“

Als Minor so sprach, hatte ich den Eindruck, dass er ohne weiteres noch sechs oder zehn Stunden lang die Tugenden des Reverend Bob hätte preisen können, nur fand ich es merkwürdig, wie sorgfältig er jede Erwähnung der Namen seiner Frau und seiner Adoptivtoc­hter zu vermeiden schien. Ich war nicht den weiten Weg aus New York gekommen, um mir leeres Geschwätz über True Value Hardware und irgendwelc­he hirnrissig­en Tempel Gottes anzuhören. Nachdem wir nun eine Weile zusammenge­sessen hatten und er in meiner Gesellscha­ft nicht mehr ganz so nervös war, hielt ich den Augenblick für gekommen, das Thema zu wechseln.

„Ich bin überrascht, dass Sie mich noch nicht nach Lucy gefragt haben“, sagte ich.

„Lucy?“, wiederholt­e er und schien aufrichtig bestürzt. „Sie kennen sie?“

„Natürlich kenne ich sie. Sie lebt bei Auroras Bruder und seiner neuen Frau. Ich sehe sie fast täglich.“

„Ich dachte, Sie hätten keinen Kontakt mit der Familie. Aurora hat erzählt, Sie leben irgendwo in einer Vorstadt, und Sie hätten sich seit Jahren bei keinem mehr blicken lassen.“

„Das hat sich vor ungefähr sechs Monaten geändert. Jetzt habe ich wieder Kontakt. Und zwar ständig.“

Minor schenkte mir ein kurzes wehmütiges Lächeln. „Wie geht’s denn der Kleinen?“„Als ob Sie das interessie­rt.“„Natürlich interessie­rt mich das.“

„Warum haben Sie sie dann fortgeschi­ckt?“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany