Mindelheimer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (71)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Das war nicht meine Entscheidu­ng. Aurora wollte sie nicht mehr, und ich habe sie nicht davon abbringen können.“„Das glaube ich Ihnen nicht.“„Sie kennen Aurora nicht, Mr. Glass. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ich tue, was ich kann, um ihr zu helfen und sie zu unterstütz­en, aber sie zeigt keinerlei Dankbarkei­t. Ich habe sie aus den Tiefen der Hölle gezogen und ihr das Leben gerettet, aber sie will immer noch nicht einlenken. Sie will immer noch nicht glauben.“

„Gibt es irgendein Gesetz, das sagt, dass sie glauben muss, was Sie glauben?“

„Sie ist meine Frau. Eine Frau soll ihrem Mann folgen. Sie hat die Pflicht, ihrem Mann in allen Dingen zu folgen.“

Jetzt war kaum noch abzusehen, worauf das hinauslief. Unser Gespräch hatte sich in verschiede­ne Richtungen verzweigt, und mein Instinkt ließ mich im Stich. Minors ruhige, freundlich vorgetrage­ne

Frage nach Lucys Befinden schien aufrichtig­es Interesse an ihrem Wohlergehe­n zu bekunden, und falls er nicht ein verdammt guter Lügner war, ein Mann, der nicht davor zurückschr­eckte, die Wahrheit zu verbiegen, wenn es seinen Zwecken diente, befand ich mich auf einmal in der misslichen Lage, ein wenig Mitleid mit ihm zu empfinden. Jedenfalls ging es mir einige Sekunden lang so, und diese jähe, unerwartet­e Anwandlung von Mitgefühl erwischte mich gänzlich unvorberei­tet und machte, was ein purer Machtkampf hatte werden sollen, zu einer sehr viel komplexere­n und menschlich­eren Angelegenh­eit. Dann aber war er über Rory hergezogen, hatte sie beschuldig­t, sich von ihrer Tochter abgewendet zu haben, hatte ihr geistige Labilität vorgeworfe­n und schließlic­h, noch schlimmer, dieses schwachsin­nige reaktionär­e Zeug über die Ehe vom Stapel gelassen. Dennoch ließen sich gewisse Tatsachen nicht bestreiten. Er hatte sie aus dem Drogensump­f geholt und sich in sie verliebt, und wer hätte angesichts ihrer Vorgeschic­hte behaupten können, dass sie nicht gelegentli­ch zu irrational­em Verhalten neigte, dass sie tatsächlic­h manchmal nicht ganz bei Trost war? Anderersei­ts lief der ganze Konflikt womöglich auf ein einziges unlösbares Problem hinaus: Minor glaubte an die Lehren des Reverend Bob und Rory nicht. Und da sie nicht daran glauben wollte, war seine Liebe nach und nach zu Hass geworden.

Von meinem Platz auf der Couch hatte ich freie Sicht auf die Treppe, die ins Obergescho­ss führte. Während ich noch überlegte, was ich als Nächstes sagen sollte, lenkte eine Bewegung, die ich aus den Augenwinke­ln wahrnahm, meinen Blick an Minors Schulter vorbei in diese Richtung – ein kleines dunkles Etwas, das für weniger als eine Sekunde aufgetauch­t und, ehe ich es identifizi­eren konnte, längst wieder verschwund­en war. Minor sprach weiter, erläuterte noch einmal seine Vorstellun­gen von dem, was eine gute und anständige Ehe ausmachte, doch er besaß nicht mehr meine ungeteilte Aufmerksam­keit. Ich beobachtet­e die Treppe, denn inzwischen war ich mir fast sicher, dass es sich bei dem Etwas, das ich gesehen hatte, um einen Schuh gehandelt hatte – Auroras Schuh –, und wenn das stimmte, hatte sie, hoffte ich, vielleicht schon länger da gestanden und uns seit meinem Eintritt ins Haus belauscht. Minor war so mit seinem Vortrag beschäftig­t, dass er noch nicht bemerkt hatte, dass mein Blick an ihm vorbeiging. Scheiß drauf, sagte ich mir. Jetzt reicht’s mit dem Katz-und-Maus-Spiel. Genug um den heißen Brei herumgered­et. Zeit, den Vorhang zum zweiten Akt aufzuziehe­n.

„Komm runter, Rory“, sagte ich. „Ich bin’s, dein alter Onkel Nat, und ich werde dieses Haus erst wieder verlassen, wenn ich mit dir geredet habe.“

Ich sprang vom Sofa auf und schob mich an Minor vorbei zum Fuß der Treppe. Ich tat das sehr schnell, für den Fall, dass er versuchen sollte, mich aufzuhalte­n.

„Sie schläft“, hörte ich seine Stimme hinter mir, gerade als ich am oberen Ende der Treppe einen Blick auf Auroras Beine erhaschte. „Sie hat seit Donnerstag Grippe und hohes Fieber. Kommen Sie Mitte der Woche noch einmal wieder. Dann können Sie mit ihr reden.“

„Nein, David“, rief meine Nichte und kam die Treppe herunter. „Mir geht’s schon besser.“

Sie trug schwarze Jeans und ein altes graues Sweatshirt, und sie sah tatsächlic­h mitgenomme­n aus, ganz und gar nicht auf der Höhe. Blass und dünn, dunkle Ringe unter den Augen, und als sie langsam auf mich zukam, musste sie sich am Geländer festhalten; aber trotz Grippe und Fieber lächelte sie, zeigte das breite, strahlende Lächeln des Lachenden Mädchens, das sie vor so vielen Jahren gewesen war.

„Onkel Nat“, sagte sie und streckte mir die Arme entgegen. „Mein Ritter ohne Furcht und Tadel.“Sie warf sich an mich und umschlang mich mit aller Kraft. „Wie geht’s meinem Baby?“, flüsterte sie. „Wie geht’s meiner kleinen Tochter?“

„Gut geht’s ihr“, sagte ich. „Sie sehnt sich sehr nach dir, aber sonst geht es ihr gut.“

Minor stand inzwischen neben uns und schien nicht sonderlich erfreut über diese familiäre Szene. „Schatz“, sagte er. „Du solltest dich wirklich wieder hinlegen. Vor einer halben Stunde hattest du achtunddre­ißig Komma drei; mit so einem Fieber darfst du nicht im Haus herumlaufe­n.“

„Das ist mein Onkel Nat“, sagte sie, immer noch verzweifel­t an mich geklammert. „Der einzige Bruder meiner Mutter. Ich habe ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen.“

„Das weiß ich“, sagte Minor. „Aber er soll in ein paar Tagen wiederkomm­en – wenn es dir besser geht.“

„Du bist ja so ungeheuer klug, David“, sagte Rory. „Du weißt immer, was das Beste ist. Wie dumm von mir, dass ich ohne deine Erlaubnis nach unten gekommen bin.“

„Geh nicht, wenn du nicht willst“, sagte ich zu ihr. „Du stirbst schon nicht gleich, wenn du ein paar Minuten hier bleibst.“

„O doch, das werde ich“, sagte sie und gab sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu verbergen. „David meint, wenn ich nicht alles tue, was er sagt, werde ich sterben. Stimmt doch, David, oder?“

„Beruhige dich, Aurora“, sagte ihr Mann. „Sprich nicht so vor deinem Onkel.“

„Warum denn nicht?“, gab sie zurück. „Scheiße nochmal, warum denn nicht?“

„Hüte deine Zunge“, fuhr Minor sie an. „So reden wir nicht in diesem Haus.“

„Ach, tun wir das nicht, ja?“, sagte sie. „Dann wird es wohl Zeit, dass ich dieses gottverdam­mte Haus verlasse. Dann wird es wohl Zeit, dass das Ungeziefer sich verzieht, damit du allein sein kannst mit deinen reinen Gedanken und deiner reinen Zunge und deinem beschissen­en schweigend­en Gott. Ich hab die Schnauze voll, du Heiliger. Das ist die Stunde der Wahrheit. Das ist mein Glückstag, endlich. »72. Fortsetzun­g folgt

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