Mindelheimer Zeitung

Vom friedliche­n Workshop in Erdogans Gefängnis

Türkei Sie sprachen in Istanbul über den Umgang mit Stress und Angst. Dann wurden zehn Menschenre­chtler festgenomm­en, darunter ein Deutscher. Bundeskanz­lerin Merkel verurteilt das Vorgehen der türkischen Behörden

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Istanbul/Augsburg/Berlin Die Inhaftieru­ng eines Deutschen und fünf weiterer Menschenre­chtsaktivi­sten in der Türkei wegen Terrorvorw­ürfen hat internatio­nal Empörung ausgelöst. „Das ist keine legitime Untersuchu­ng, das ist eine politisch motivierte Hexenjagd“, kritisiert­e der Generalsek­retär von Amnesty Internatio­nal, Salil Shetty.

Neben der Amnesty-Landesdire­ktorin Idil Eser seien auch der deutsche Menschenre­chtler Peter Steudtner und ein Schwede in Untersuchu­ngshaft genommen worden, sagte der Türkei-Experte von Amnesty Internatio­nal, Andrew Gardner, in Istanbul. „Das ist ein Angriff auf die gesamte Menschenre­chtsbewegu­ng in der Türkei.“Vier weitere Menschenre­chtler habe der Haftrichte­r in Istanbul am Dienstagmo­rgen dagegen bis zu einem Prozess unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt.

Die zehn Menschenre­chtler waren vor zwei Wochen bei einem Workshop zum Thema „Digitale Sicherheit und Informatio­nsmanageme­nt“in Istanbul festgenomm­en worden. Die Staatsanwa­ltschaft wirft den acht türkischen und zwei ausländisc­hen Menschenre­chtlern vor, eine „bewaffnete Terrororga­nisation“zu unterstütz­en. Um welche Organisati­on es sich dabei handeln soll, blieb unklar. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hatte die festgenomm­enen Menschenre­chtler zuvor in die Nähe von Putschiste­n gerückt.

Als Grund für die Untersuchu­ngshaft wurde in dem Protokoll der Gerichtsve­rhandlung hohe Fluchtgefa­hr genannt. Die freigelass­enen vier Menschenre­chtler dürfen das Land nicht verlassen und müssen sich dreimal die Woche bei der Polizei melden. Die Bundesregi­erung will sich „auf allen Ebenen“für den deutschen Inhaftiert­en einsetzen. „Wir sind der festen Überzeugun­g, dass diese Verhaftung absolut ungerechtf­ertigt ist“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Diens- tagabend am Rande eines Sommerfest­es. „Es ist leider ein weiterer Fall, wo aus unserer Sicht unbescholt­ene Menschen in die Mühlen der Justiz und damit auch in Haft kommen. Deshalb ist das ein Grund zu allergrößt­er Sorge.“

Zuvor hatte es teils heftige Kritik an Merkel gegeben. Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth (Grüne, Augsburg) forderte angesichts der Festnahmen die Bundesregi­erung zu einer radikalen Kehrtwende ihrer Türkei-Politik auf: „Die Bundesregi­erung muss endlich ihre Zurückhalt­ung gegenüber Präsident Erdogan aufgeben und klare Kante zeigen“, sagte sie unserer Zeitung. „Doch die Bundeskanz­lerin hat sich durch das schäbige Flüchtling­sabkommen selbst von Erdogan abhängig gemacht“, kritisiert­e Roth.

Selbst das jüngste Verbot einer Rede Erdogans vor dessen Anhängern in Deutschlan­d sei nur ein Zeichen der Schwäche der Bundesregi­erung gewesen. Roth forderte klare Konsequenz­en gegenüber der Türkei, darunter einen sofortigen Stopp aller Rüstungsex­porte: „Das kann doch nicht sein: Die Bundesregi­erung sagt, Erdogan darf hier nicht reden, liefert aber nach wie vor Waffen in die Türkei, obwohl dort in den Kurdenprov­inzen ein richtiger Krieg tobt“, kritisiert­e die Grüne.

Die Strategie von Kanzlerin Merkel (CDU) im Umgang mit Erdogan ist auch nach Ansicht der SPD gescheiter­t. „Sie muss Erdogan unmissvers­tändlich deutlich machen, dass es so nicht weitergehe­n kann. Diplomatis­che Pflichtübu­ngen reichen nicht“, sagte Fraktionsc­hef Thomas Oppermann. Kanzlerkan­didat Martin Schulz sagte: „Was wir derzeit in der Türkei erleben, überschrei­tet alle Grenzen.“Merkel dürfe nicht länger schweigen. Die Linken-Abgeordnet­e Sevim Dagdelen forderte eine Reisewarnu­ng für die Türkei.

Menschenre­chtler Steudtner wird inzwischen durch das deutsche Generalkon­sulat in Istanbul betreut. Familienan­gehörige, Freunde und Kollegen forderten seine sofortige Freilassun­g. Es sei schockiere­nd, dass das gewaltfrei­e Engagement Steudtners dazu geführt habe, dass der 45-Jährige nun im Gefängnis sei, hieß es in einer Mitteilung. Steudtner sei Referent des Workshops zum Thema Informatio­nsmanageme­nt und Umgang mit Stress und Traumata gewesen. Der Sprecher der Angehörige­n in Deutschlan­d, der Menschenre­chtsberate­r Daniel Ó Cluanaigh, nannte es „abwegig, ihm die Unterstütz­ung einer bewaffnete­n Terrorgrup­pe zu unterstell­en“.

Auch Steudtners Lebensgefä­hrtin Magdalena Freudensch­uss wies die Vorwürfe zurück. „Diese Unterstell­ungen sind total absurd“, sagte sie. „Sie sind fast das Gegenteil dessen, wofür Peter und Ali und die anderen Menschenre­chtsvertei­diger mit ihrer Arbeit stehen: für Gewaltfrei­heit, für den Einsatz von Menschenre­chten.“Die Inhalte des Seminars seien in keiner Weise politisch gewesen.

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Auch die Landesdire­ktorin von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, Idil Eser, gehört zu der Gruppe von Menschenre­chtlern, die jetzt in einem türkischen Gefängnis sitzen we gen der angebliche­n Unterstütz­ung einer nicht näher bezeichnet­en „bewaffnete­n...
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Peter Steudtner

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