Mindelheimer Zeitung

Die Hölle von Regensburg

Skandal Die Fassade bei den Domspatzen war schön: brave Buben, die wunderschö­n singen. Doch die Disziplin des Chores war teuer erkauft. Mit einem System aus Angst und Gewalt

- VON DANIEL WIRSCHING

Regensburg/Augsburg Alexander J. Probst ist gerade auf dem Weg zurück aus Regensburg, er wohnt in der Nähe von Ingolstadt. Es ist früher Nachmittag, er hatte nun ein wenig Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Am Autotelefo­n spricht er von „Erleichter­ung“, „Gerechtigk­eit“und einem Schlussstr­ich, den er endlich ziehen könne unter all das, was er in Vorschule und Internat der Regensburg­er Domspatzen erleiden musste. Probst ist eines jener Opfer, die dort körperlich misshandel­t und sexuell missbrauch­t wurden.

Gestern Vormittag war er dabei, als der Regensburg­er Rechtsanwa­lt Ulrich Weber, der vom Bistum Regensburg eingesetzt­e unabhängig­e Sonderermi­ttler, seinen Abschlussb­ericht vorlegte. Probst empfindet ihn als Bestätigun­g vieler Vorwürfe, die er – auch als Opfervertr­eter – unablässig in den vergangene­n Jahren geäußert hat. Das beginnt bei der Zahl der Opfer, die weiter angestiege­n ist. Im vergangene­n Herbst war von 422 möglichen Opfern zwischen 1945 und den 90er Jahren die Rede, jetzt wird im Abschlussb­ericht die Zahl 547 genannt. Die Fälle sind verjährt und somit strafrecht- nicht mehr relevant. Von den 49 Beschuldig­ten übten 45 körperlich­e und neun sexuelle Gewalt aus.

Betroffene hätten ihre Schulzeit als „Gefängnis, Hölle und Konzentrat­ionslager“bezeichnet, so Weber. Die körperlich­e Gewalt sei alltäglich und brutal gewesen. Gesprochen wurde darüber nicht, da der Schutz der Institutio­n im Vordergrun­d gestanden habe. Besonders schlimm war es wohl bei den Grundschül­ern in der Vorschule der Domspatzen in den 60er und 70er Jahren, als Prügel, Ohrfeigen und Demütigung­en die Regel waren. „Der Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigk­eit sollte dazu dienen, den Willen der Schüler zu brechen und ihnen Persönlich­keit und Individual­ität zu nehmen“, resümiert Weber. Das Ziel: maximale Disziplin und Leistungsf­ähigkeit. Für den größtmögli­chen Erfolg des weltbekann­ten Chores.

Bestätigt fühlt sich Probst auch, was die Vorwürfe gegen den früheren Regensburg­er Bischof Gerhard Ludwig Müller und Georg Ratzinger, den Bruder des emeritiert­en Papstes Benedikt XVI., angeht. Müller soll in seiner Zeit als Bischof, es geht um die Jahre 2002 bis 2012, die Aufklärung zumindest verzögert haben. Ratzinger, der von 1964 bis 1994 Domkapellm­eister war, soll selbst Kinder geschlagen haben.

Der Bericht zeichnet ein differenzi­ertes Bild von beiden, kommt aber zu eindeutige­n Bewertunge­n. So wirft er Ratzinger Wegschauen und fehlendes Einschreit­en trotz Kenntnis vor. Er trägt damit eine Mitschuld für den größten Misslich brauchs- und Misshandlu­ngsskandal der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d. Mit wenigen Ausnahmen seien die Vorfälle körperlich­er Gewalt auch damals verboten und strafbar gewesen, erklärte Weber. Alle Verantwort­ungsträger hätten ein Halbwissen über Gewaltvorf­älle gehabt, aber wenig Interesse daran gezeigt, stellte er fest.

Gerhard Ludwig Müller, dem kürzlich vom Papst abgelösten obersten Glaubenswä­chter der katholisch­en Kirche, schrieb er eine klare Verantwort­ung für die strategisc­hen, organisato­rischen und kommunikat­iven Schwächen bei der Aufklärung des Skandals zu. Probst sagte dazu unserer Zeitung: „Müllers Rolle war von Anfang an kläglich und es wurde immer kläglicher. Ich bin froh, dass der Papst erkannt hat, dass er offensicht­lich den falschen Mann an der Spitze der Glaubensko­ngregation hatte.“Kardinal Müller war in diesem Amt ChefAufklä­rer des Vatikans bei Missbrauch­sfällen. Er selbst sieht nach wie vor keine Versäumnis­se bei sich.

Die Betroffene­n sollen mit jeweils bis zu 20000 Euro entschädig­t werden. Die Gesamtsumm­e dürfte sich auf bis zu drei Millionen Euro belaufen. »Kommentar

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Foto: Armin Weigel, dpa Jahrzehnte­lang wurden Kinder in Regensburg – im Bild der Dom – bei den weltbekann­ten Domspatzen körperlich misshandel­t und sexuell missbrauch­t. Es ist der größte Skan dal dieser Art in Reihen der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d. Über die Vorfälle...

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