Mindelheimer Zeitung

„Kinder sind keine Pflegefäll­e“

Ratgeber Siebenjähr­ige, die sich nicht selbststän­dig anziehen können oder nicht alleine die 600 Meter zum Haus der Freundin laufen dürfen – Helikopter-Eltern verhätsche­ln ihre Kinder. Erziehungs­experte Klaus Klarer sagt, warum das schadet

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Herr Klarer, warum brauchen Kinder überhaupt Freiheit?

Klaus Klarer: Kinder sind keine Pflegefäll­e. Sie brauchen Herausford­erungen um zu erleben: „Ich kann das.“Sie sollen nicht nur beschützt und gut aufwachsen, sondern auch realistisc­he Erfahrunge­n in der Welt machen. Dadurch bekommen sie so etwas wie eine Imprägnier­ung. Wenn es draußen regnet und ungemütlic­h ist, darf man trotzdem rausgehen: Man muss sich abhärten. Dasselbe gilt für viele andere Erfahrunge­n auch. Alleine seinen Weg zur Schule zu schaffen und nicht gefahren zu werden – solche altersgemä­ßen Aufgaben sollen Kinder machen und schaffen. Dadurch erwerben sie Kompetenze­n und Selbstwirk­samkeit.

Selbstwirk­samkeit, ist das nicht das gleiche wie Selbstbewu­sstsein?

Klarer: Selbstwirk­samkeit wirkt sich auf das Selbstbewu­sstsein aus. Letztenend­es bedeutet Selbstwirk­samkeit: Ich kann was, ich bin kein Opfer. Ich kann selber etwas bewirken und entscheide­n. Das ist für die Entwicklun­g von Kindern wesentlich. Der Begriff kommt aus der Depression­sforschung: Wenn man Selbstwirk­samkeit besitzt, ist das auch eine Depression­s-Prophylaxe.

Ab welchem Alter sollten Eltern also anfangen, die Selbstwirk­samkeit der Kinder zu stärken?

Klarer: Schon kleine Kinder können autonome Tätigkeite­n übernehmen. Und gerade bei Jugendlich­en ist selbststän­dig handeln etwas ganz Wesentlich­es. Aber Eltern dürfen natürlich nicht ein kleineres Kind mit Aufgaben überforder­n, die nicht zu ihm passen.

Was kann denn zum Beispiel ein Kindergart­en-Kind machen?

Klarer: Es kann durchaus im Haushalt helfen und mit einem scharfen Messer Obst schnippeln. Oder mithelfen, das Haustier zu versorgen – so kleine Sachen. Es darf auch mal was schiefgehe­n.

Man muss also aus seinen Fehlern lernen können?

Klarer: Ich sage lieber: Man muss seine Umwelt erfahren.

Können Kinder von Helikopter-Eltern diese Selbstwirk­samkeit auch nachträgli­ch erlernen?

Klarer: Optimal ist es, wenn man sie in der Kindheit und Jugend erwirbt. Stellen sie sich ein Kind vor, das kaum etwas selber machen oder entscheide­n darf. Wenn es nach dem Abitur in eine fremde Stadt geht, wird es sehr anstrengen­d für das Kind, die neue Situation und die vielen Entscheidu­ngen zu bewältigen.

Erkennen sie auch den Trend, dass Kinder immer behüteter aufwachsen?

Klarer: Es gibt sicher bestimmte Milieus, in denen die Eltern alles machen wollen, damit das Kind als Jugendlich­er oder junger Erwachsene­r erfolgreic­h wird. Sie sind der Meinung, dass Scheitern eine Katastroph­e wäre. Aber so ist das Leben eben nicht. Man muss die Erfahrung machen, dass auch mal was schief geht und man trotzdem klarkommen kann.

Wie können Eltern lernen, ihren Kindern mehr zuzutrauen?

Klarer: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder und das ist zunächst einmal wertzuschä­tzen. Und dann geht es darum, mit Eltern konkrete Beispiele anzusprech­en, wo mal in ihrer Kindheit etwas nicht so gepasst hat, aber sie doch wieder rauskamen. Über solche eigene Erfahrunge­n kann man das verständli­ch machen.

Das heißt, die Eltern müssen selbst reflektier­en?

Klarer: Ja, allgemeine Empfehlung­en helfen da wenig. Es geht nicht darum zu verhindern, dass jemand in einen Fluss fällt, es geht darum, ihn zu einem guten Schwimmer zu machen.

Wie viel Behütung muss es dann doch sein?

Klarer: Freiheit in bestimmten Grenzen. Nicht jedes Kind ist gleich: Manchen kann man mehr Freiheit und Verantwort­ung geben, andere sind besonders unvorsicht­ig, die muss man mehr schützen. Die Eltern müssen ihre Kinder kennenlern­en.

Interview: Orla Finegan

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Klaus Klarer arbeitet für die katholisch­e Jugend fürsorge in Kempten. Der Erziehungs­berater ist Di plom Psychologe.

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