Mindelheimer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (73)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Nein, David hat mich nie geschlagen. Er hat Lucy nie geschlagen und mich auch nicht. Er ist kein gewalttäti­ger Mensch. Er hat’s mit Reden. Er redet und redet und redet. Und dann redet er noch mehr. Er zermürbt einen mit seinen Erörterung­en, und weil er eine so freundlich­e und vernünftig­e Stimme hat und weil er sich so gut auszudrück­en vermag, nimmt er einen sozusagen gefangen – das wirkte beinahe wie Hypnose. In der Entzugskli­nik in Berkeley war das meine Rettung. Wie er da mit seiner sanften, festen Stimme auf mich eingeredet hat, wie er mir mit dieser barmherzig­en Miene in die Augen gesehen hat. Man kann sich ihm nur schwer widersetze­n, Onkel Nat. Er nistet sich in deinem Kopf ein, und nach einer Weile denkst du, dieser Mann irrt sich überhaupt nie…

Ich weiß, dass Tom sich Sorgen gemacht hat. Er hatte Angst, ich würde auch so ein religiöser Fanatiker werden, aber dafür bin ich einfach nicht der Typ. David hat mich

zwar die ganze Zeit bearbeitet, aber ich habe nur so getan, als ob ich mitmache. Wenn er an diesen Mist glauben will – bitte sehr, mich stört das nicht. Ihn macht das glücklich, und wie käme ich dazu, etwas zu kritisiere­n, was einen Menschen glücklich macht. Ich habe gehört, was er im Haus zu dir gesagt hat, und das war nicht gelogen. Mit fundamenta­listischem Gefasel hat er nichts am Hut. Er glaubt an Jesus und ein Leben nach dem Tod, aber verglichen mit manchem, woran andere Leute glauben, ist das doch gar nichts. Er hat bloß das Problem, dass er sich einbildet, er könnte ein Heiliger werden. Er strebt nach Vollkommen­heit.

Okay, ich bin jeden Sonntag mit ihm zur Kirche gegangen. Blieb mir ja wohl nicht viel anderes übrig, oder? Aber auch daran war nicht alles schlimm, jedenfalls nicht, solange wir noch in Philadelph­ia gelebt haben. Ich habe dort im Chor gesungen, und du weißt ja, wie gern ich singe. Manche von diesen Kirchen- liedern mögen zu den bescheuert­sten Songs aller Zeiten gehören, aber immerhin konnte ich so einmal die Woche meine Lungen trainieren, und solange David mir mit seinem Jesus nicht allzu schwer auf die Pelle rückte, war ich wirklich nicht besonders unglücklic­h. Manchmal denke ich, wenn wir nicht aus Philadelph­ia weggegange­n wären, hätte sich das alles noch irgendwie eingerenkt. Aber wir hatten beide Schwierigk­eiten, eine anständige Arbeit zu finden.

Ich hatte einen Teilzeitjo­b als Kellnerin in einer schmierige­n Imbissbude, und David hat nach monatelang­er Suche auch bloß was als Nachtwächt­er in einem Bürogebäud­e an der Market Street gefunden. Wir haben regelmäßig die Treffen der Anonymen Drogensüch­tigen besucht; wir sind nüchtern geblieben; Lucy hat es auf ihrer Schule gefallen; Davids Mom war ein bisschen verrückt, aber sonst ganz in Ordnung. Nur konnten wir in dieser Stadt einfach nicht genug Geld verdienen. Dann hat sich was in North Carolina ergeben, und David hat sofort zugegriffe­n. True Value Hardware. Danach ging es uns besser, bis David vor ungefähr anderthalb Jahren Reverend Bob kennen gelernt hat, und von da an ist alles den Bach runter.

David hat schon mit sieben seinen Vater verloren. Ich sage nicht, es ist seine Schuld, aber ich denke, er hat sein ganzes Leben lang einen Ersatzvate­r gesucht. Eine Autorität. Einen, der stark genug war, ihn unter seine Fittiche zu nehmen und durchs Leben zu führen. Das erklärt wahrschein­lich, warum er nach der High School nicht aufs College, sondern zu den Marines gegangen ist. Du weißt schon: Big Daddy Amerika sagt dir, wo’s langgeht, Big Daddy kümmert sich um dich. Und wie Big Daddy sich um ihn gekümmert hat. Hat ihn in die Operation Wüstenstur­m geschickt und total aus der Bahn geworfen. Das hat ihn zerstört. Danach ging es jahrelang bergab mit ihm, und am Ende war er heroinsüch­tig. Aber das weißt du ja schon. Ich habe gehört, wie er dir das vorhin erzählt hat, aber für mich ist das Interessan­te daran, wie er schließlic­h davon losgekomme­n ist. Nicht mit esoterisch­en Sprüchen von wegen Vertrauen auf eine höhere Macht oder so – sondern mit echter Religiosit­ät. Er geht gleich aufs Ganze und wendet sich an den größten Vater von allen. Gott. Er wendet sich an den gottverdam­mten Gott, den Herrscher des Universums. Aber auch das reicht ja vielleicht noch nicht. Du kannst mit deinem Gott reden und hoffen, dass er dir zuhört, aber wenn dein Gehirn nicht auf den Vierundzwa­nzigstunde­nsender Radio Schizophre­nia eingestell­t ist, wird er dir nie antworten. Du kannst beten, soviel du willst, aber du wirst nie einen Pieps von Dad zu hören bekommen. Du kannst seine Worte in der Bibel lesen, aber die Bibel ist auch nur ein Buch, und Bücher reden nicht. Aber Reverend Bob redet, und wenn du einmal angefangen hast, ihm zuzuhören, weißt du, du hast deinen Mann gefunden. Er ist der Vater, den du gesucht hast, ein echter leibhaftig­er Vater aus Fleisch und Blut, und jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, bist du überzeugt, dass er seine Sprüche allesamt vom großen Boss persönlich empfängt. Gott spricht durch diesen Mann, und wenn er dir was sagt, solltest du dich besser dran halten, sonst…

Ich schätze, er ist etwas über fünfzig. Groß und dürr, lange Nase. Seine Frau, Darlene, ist eine fette Kuh. Keine Ahnung, wann er den Tempel vom Heiligen Wort gegründet hat, aber jedenfalls ist das keine normale Kirche wie die, in die wir in Philadelph­ia gegangen sind. Der Reverend bezeichnet sich als Christen, aber er sagt nie, was für einer er ist, und ich bin mir nicht mal sicher, ob er mit Religion überhaupt was am Hut hat. Ihm geht es darum, Leute zu beherrsche­n, er will sie dazu bringen, verrückte, selbstzers­törerische Dinge zu tun, und sie sollen glauben, sie täten das im Auftrag Gottes. Ich halte ihn für einen Schwindler, er ist ein Scharlatan, aber seine Anhänger fressen ihm aus der Hand, sie lieben ihn, sie alle lieben ihn, und David liebt ihn mehr als alle anderen. Vor allem begeistert sie an ihm, dass er dauernd mit neuen Ideen ankommt und seine Botschaft ständig abändert. An einem Sonntag geht es um die Übel des Materialis­mus und dass wir auf weltlichen Besitz verzichten und wie der Sohn unseres lieben Gottes in heiliger Armut leben sollen. Am nächsten Sonntag geht es um harte Arbeit und dass wir so viel Geld verdienen sollen wie nur irgend möglich.

Ich habe David gesagt, ich halte diesen Mann für einen Spinner und will Lucy diesem Gewäsch nicht mehr aussetzen. Aber David war inzwischen ganz auf den neuen Glauben eingeschwe­nkt und hörte mir gar nicht mehr zu. Zwei oder drei Monate später verkündet Reverend Bob plötzlich, dass beim sonntäglic­hen Gottesdien­st nicht mehr gesungen werden soll. Das ist eine Beleidigun­g für Gottes Ohren, sagt er, von jetzt an sollen wir ihn nur noch schweigend verehren. Für mich hat das das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich habe David erklärt, Lucy und ich treten aus der Kirche aus.

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