Wie gerecht geht es hierzulande zu?
Soziales Immer mehr Menschen finden Arbeit, und doch geht die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander. Ein Gespräch über Fairness, Chancen und Teilhabe
Landkreis Es ist paradox: Nahezu alle statistischen Daten zeigen, dass es Deutschland so gut geht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Bayern und Baden-Württemberg stehen dabei besonders gut da. Im Unterallgäu herrscht Vollbeschäftigung. Dennoch beschleicht immer mehr Menschen das Gefühl, dass es in der Gesellschaft weniger gerecht zugeht. Die einen werden immer reicher, die anderen wissen kaum noch, wie sie genügend Geld zusammenbekommen sollen, um ihr Leben zu finanzieren. Johann Stoll sprach mit dem Bonner Wissenschaftler Dr. Thomas Ebert, der sich seit vielen Jahren mit der sozialen Frage im Land befasst.
Herr Dr. Ebert, gibt es soziale Gerechtigkeit überhaupt?
Ebert: Wenn Sie damit sagen wollen, dass wir eigentlich gar nicht wissen, was soziale Gerechtigkeit ist, dann kann ich Ihre Zweifel verstehen. Schließlich haben sich die Philosophen seit mehr als zweitausend Jahren viele Gedanken gemacht, aber keine allseits akzeptierte Antwort gefunden. Trotzdem kann man die allgemeine Wortbedeutung dieses Begriffes beschreiben.
Das bedeutet?
Ebert: Bei allen Meinungs- und Interessenunterschieden sind wir uns wohl in einem Punkt einig: Die Güter und Lasten, die Rechte und Pflichten, die Freiheitsspielräume und die Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, sollten in einer Gesellschaft nicht willkürlich und auch nicht nach dem Gesetz des Stärkeren verteilt sein, sondern nach bestimmten Regeln, und zwar nach Regeln, die moralisch gerechtfertigt werden können. Auch wenn wir verschiedene Vorstellungen von diesen Regeln haben, so stimmen wir darüber überein, dass diese Regeln fair sein müssen. Das heißt: Auch wer verliert, muss sagen können, dass er die Regeln anerkennt. Ich gebe zu, dass das noch ganz unbestimmt ist, aber es ist ein gewisser Rahmen, innerhalb dessen wir weiter diskutieren und versuchen können, einen Konsens über soziale Gerechtigkeit zu finden.
Blicken wir auf unser Land. Wie gerecht geht es in Deutschland zu?
Ebert: Sicher geht es heute in Deutschland gerechter zu als in vielen anderen Ländern und auch gerechter als, sagen wir, vor 100 Jahren. Aber entscheidend ist, dass es nicht so gerecht zugeht, wie es könnte und sollte. Ein deutliches Zeichen für Ungerechtigkeit ist die wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen.
Geht es bei der sozialen Gerechtigkeit also in erster Linie um die Umverteilung von Wohlstand?
Ebert: Bezogen auf die derzeitige aktuelle Situation würde ich das so sagen. Ich denke, dass die soziale Ungleichheit im heutigen Umfang - vor allem weltweit, aber auch innerhalb von Deutschland - ungerecht ist und dass es allen Anlass gibt, Wohlstand umzuverteilen. Aber soziale Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht dasselbe, obwohl sie viel miteinander zu tun haben. Gleichheit kann gerecht, aber auch ungerecht sein; es hängt immer von dem Maßstab ab, im Bezug worauf etwas gleich oder ungleich ist. Männer und Frauen bei gleicher Arbeit gleich zu bezahlen, ist gerecht, aber allen Kindern in der Schule die gleichen Noten zu geben, wäre nicht gerecht, sondern ungerecht.
Meinen Sie also, dass Leistungsgerechtigkeit der richtige Maßstab für soziale Gerechtigkeit ist?
Ebert: Leistungsgerechtigkeit bedeutet „gleicher Lohn für gleiche Leistung“und „ungleicher Lohn für ungleiche Leistung“. Das ist auf den ersten Blick sehr überzeugend, aber mit zwei Problemen verbunden. Erstens ist völlig unklar, was „Leistung“eigentlich ist und wie wir verschiedene Leistungen miteinander vergleichen können. Auf keinen Fall wir „Leistung“einfach mit ökonomischem Erfolg in der Marktwirtschaft gleichsetzen. Diesen Fehler machen viele, die sich auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit berufen, um die bestehende soziale Ungleichheit zu rechtfertigen.
Bei Gerechtigkeit kann es aber nicht auf den Markterfolg ankommen, sondern es können nur solche Leistungen zählen, die unter ethischen Gesichtspunkten anerkennenswert sind. Viele Leistungen sind zwar ethisch anerkennenswert, werden aber vom Markt nicht belohnt, zum Beispiel Kindererziehung, umweltschonendes Verhalten oder soziales Engagement. Auf der Gegenseite werden manche Leistungen zwar vom Markt belohnt, können aber kaum als ethisch anerkennenswert betrachtet werden, zum Beispiel Waffenproduktion oder riskante Finanzgeschäfte, die ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben können.
Auch die Tatsache, dass eine Krankenschwester nur den Bruchteil des Einkommens eines Profifußballers verdient, gibt Anlass, an der Gerechtigkeit des Marktes bei der Bewertung von Leistungen zu zweifeln. Kurzum, wenn wir konkret beurteilen wollen, was gerecht und was ungerecht ist, hilft uns das Prinzip „gleicher Lohn bei gleicher Leistung“nicht viel weiter.
Zweitens hat die Idee der Leistungsgerechtigkeit noch eine andere Schwachstelle: Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Leistung“kann nämlich nur zu gerechten Resultaten führen, wenn Chancengleichheit herrscht. Nur wenn diejenigen, die zum Leistungswettbewerb antreten, auf der gleichen Position starten, können wir jedem seine Leistung gerechterweise als Verdienst gutschreiben; andernfalls ist es eigentlich gar keine eigene Leistung, sondern nur ein Glücksfall. Aus diesem Zusammenhang zwischen Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit ergibt sich aber nun eine Schwierigkeit.
Und worin besteht das Problem mit der Chancengleichheit?
Ebert: Es besteht darin, dass Chancengleichheit nur eingeschränkt erreichbar ist; wenn das aber der Fall ist, dann kann auch von Leistungsgerechtigkeit nur bedingt die Rede sein. Genau genommen verträgt sich Chancengleichheit nicht mit dem Erbrecht und verlangt ein einheitliches Bildungswesen, das den Einfluss der Eltern auf den Erfolg ihrer Kinder weitgehend ausschaltet.
Soweit ich sehe, will das aber niemand, noch nicht einmal die Linkspartei. Das finde ich auch richtig so, denn das Bestreben, das was man erworben hat, an seine Kinder weiterzugeben, ist im Menschen tief verwurzelt, und das Recht, es tun zu dürfen ist ein Menschenrecht. Also können wir uns der Chancengleichheit nur annähern, ohne sie zu erreichen.
In unserem Bildungswesen kann und muss vieles verbessert werden, aber die entscheidende Ursache für ungleiche Chancen in unserer Gesellschaft besteht in der sozialen Ungleichheit, also in der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Ungleiche Chancen im Bildungswesen sind nur die Folge davon. Ein noch so gutes Bildungswesen kann nichts daran ändern, dass Armut und Perspektivmangel die entscheidenden Bildungshemmnisse sind und dass ererbter Reichtum und familiär bedingte Beziehungsnetzwerke in aller Regel einen Platz in den oberen Rängen der Gesellschaft garantieren.
Sowohl mit der Leistungsgerechtigkeit, als auch mit der Chancengleichheit gibt es also Schwierigkeiten. Wie finden wir aus dem Dilemma heraus?
Ebert: Einerseits sollten wir um der Leistungsgerechtigkeit willen Ungleichheit von Einkommen und Vermögen hinnehmen und andererseits müssen wir wegen der Chancengleichheit mehr Gleichheit anstreben. Also müssen wir zwischen beidem einen Kompromiss finden und eine Balance zwischen Gleichheit und Ungleichheit herstellen. Dabei gibt es keine perfekte Lösung, sondern nur Annäherungen, die immer wieder überprüft und korrigiert werden müssen.
Können Sie das konkretisieren?
Ebert: Man kann einen Grundsatz formulieren: So wenig Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wie möglich, damit wir ein Höchstmaß an Chancengleichheit - oder besser Chancengerechtigkeit - realisieren, und so viel Ungleichheit wie nötig, damit Leistung - wie auch immer wir sie definieren und messen - bedürfen lohnt wird und in der Gesellschaft ein Anreiz zu wirtschaftlicher Initiative bestehen bleibt. Damit haben wir sozusagen zwei Grenzen definiert. Die erste Grenze ist derjenige Grad von Ungleichheit, bei dem die Chancengerechtigkeit massiv verletzt wird; die zweite Grenze ist bei demjenigen Ausmaß von Gleichheit erreicht, bei dem Leistung nicht mehr angemessen belohnt und die wirtschaftliche Initiative behindert wird.
Wo diese Grenzen verlaufen, kann niemand generell definieren, aber zwei Aussagen sind möglich: Erstens ist die Grenze der sozialen Ungleichheit, die wir noch als gerecht tolerieren sollten, in der Bundesrepublik Deutschland derzeit deutlich überschritten. Und zweitens sind wir von der Grenze, bei der die Gleichheit mit der Leistungsgerechtigkeit in Konflikt gerät, mit Sicherheit noch weit entfernt. Dies sind keine Aussagen für alle Zeiten und für jede beliebige Situation, aber unter den heute gegebenen Verhältnissen treffen sie meines Erachtens zu.
Sehen wir uns mal die Debatte um die Studiengebühren an. Ist es gerecht, wenn auf sie verzichtet wird mit der Folge, dass Arbeiter für Akademikerkinder mitzahlen, die tendenziell eher studieren?
Ebert: Wir müssen zwei Dinge auseinanderhalten. Das eine ist die Chancengerechtigkeit; sie verlangt, dass alle dazu befähigten jungen Menschen ohne Rücksicht auf die Finanzkraft ihrer Eltern studieren können. Die Voraussetzung dafür ist kostenlose Bildung für alle, und deshalb sind Studiengebühren ungerecht.
Das andere ist die Verteilungsgerechtigkeit. Wenn die Unterschiede zwischen den unteren und den oberen Einkommensgruppen - zum Beispiel den Arbeitern und den Akademikern - zu groß sind, dann muss man die niedrigeren Einkommen erhöhen oder steuerlich entlasten und die höheren Einkommen höher besteuern. Aber beides hat nichts damit zu tun, ob die Betreffenden studierende Kinder haben oder nicht.
Wenn man glaubt, die Banker oder die Zahnärzte verdienten zu viel, dann darf man nicht nur diejenigen zur Kasse bitten, die erst noch Banker oder Zahnärzte werden wollen. Damit würde man vor allem die Arbeiterkinder treffen. Also: gleichmäßigere Einkommensverteilung ja, Studiengebühren nein. Vor allem kann man Studiengebühren nicht mit sozialer Gerechtigkeit rechtfertigen.
Nach einer Forsa-Umfrage von Ende Mai 2017 sind 62 Prozent der Menschen in Deutschland mit ihrer Situation zufrieden und darunter 19 Prozent sogar sehr zufrieden. Das deutet nicht auf eine große Gerechtigkeitslücke in unserem Land hin.
Ebert: Das gleiche Institut hat im Auftrag des „Stern“im Dezember 2016 ermittelt, dass nur 24 Prozent der Deutschen glauben, dass es in unserem Land alles in allem gerecht zugeht. Das scheint ein Widerspruch zu sein, ist es aber nicht, denn Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit sind verschiedene Sachen.
Bei der Zufriedenheit geht es um den Vergleich zwischen dem persönlichen Befinden und den persönlichen Wünschen, bei der Gerechtigkeit um den Vergleich zwischen Personen und sozialen Gruppen. Man kann also persönlich mit seiner ökonomischen Position zufrieden sein und trotzdem wissen, dass es anderen besser oder schlechter geht, ohne dass die anderen das verdient oder verschuldet haben. Die scheinbar widersprechenden Umfragen zeigen lediglich, dass die Menschen Zufriedenheit und Gerechtigkeit durchaus auseinanderhalten und dass sie soziale Gerechtigkeit keineswegs einfach mit ihrem eigenen Vorteil gleichsetzen.