Mindelheimer Zeitung

Wie gerecht geht es hierzuland­e zu?

Soziales Immer mehr Menschen finden Arbeit, und doch geht die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinande­r. Ein Gespräch über Fairness, Chancen und Teilhabe

- Fotos: dpa/Michael Schütze, fotolia/Ebert

Landkreis Es ist paradox: Nahezu alle statistisc­hen Daten zeigen, dass es Deutschlan­d so gut geht wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr. Bayern und Baden-Württember­g stehen dabei besonders gut da. Im Unterallgä­u herrscht Vollbeschä­ftigung. Dennoch beschleich­t immer mehr Menschen das Gefühl, dass es in der Gesellscha­ft weniger gerecht zugeht. Die einen werden immer reicher, die anderen wissen kaum noch, wie sie genügend Geld zusammenbe­kommen sollen, um ihr Leben zu finanziere­n. Johann Stoll sprach mit dem Bonner Wissenscha­ftler Dr. Thomas Ebert, der sich seit vielen Jahren mit der sozialen Frage im Land befasst.

Herr Dr. Ebert, gibt es soziale Gerechtigk­eit überhaupt?

Ebert: Wenn Sie damit sagen wollen, dass wir eigentlich gar nicht wissen, was soziale Gerechtigk­eit ist, dann kann ich Ihre Zweifel verstehen. Schließlic­h haben sich die Philosophe­n seit mehr als zweitausen­d Jahren viele Gedanken gemacht, aber keine allseits akzeptiert­e Antwort gefunden. Trotzdem kann man die allgemeine Wortbedeut­ung dieses Begriffes beschreibe­n.

Das bedeutet?

Ebert: Bei allen Meinungs- und Interessen­unterschie­den sind wir uns wohl in einem Punkt einig: Die Güter und Lasten, die Rechte und Pflichten, die Freiheitss­pielräume und die Möglichkei­ten, sein Leben zu gestalten, sollten in einer Gesellscha­ft nicht willkürlic­h und auch nicht nach dem Gesetz des Stärkeren verteilt sein, sondern nach bestimmten Regeln, und zwar nach Regeln, die moralisch gerechtfer­tigt werden können. Auch wenn wir verschiede­ne Vorstellun­gen von diesen Regeln haben, so stimmen wir darüber überein, dass diese Regeln fair sein müssen. Das heißt: Auch wer verliert, muss sagen können, dass er die Regeln anerkennt. Ich gebe zu, dass das noch ganz unbestimmt ist, aber es ist ein gewisser Rahmen, innerhalb dessen wir weiter diskutiere­n und versuchen können, einen Konsens über soziale Gerechtigk­eit zu finden.

Blicken wir auf unser Land. Wie gerecht geht es in Deutschlan­d zu?

Ebert: Sicher geht es heute in Deutschlan­d gerechter zu als in vielen anderen Ländern und auch gerechter als, sagen wir, vor 100 Jahren. Aber entscheide­nd ist, dass es nicht so gerecht zugeht, wie es könnte und sollte. Ein deutliches Zeichen für Ungerechti­gkeit ist die wachsende Ungleichhe­it der Einkommen und Vermögen.

Geht es bei der sozialen Gerechtigk­eit also in erster Linie um die Umverteilu­ng von Wohlstand?

Ebert: Bezogen auf die derzeitige aktuelle Situation würde ich das so sagen. Ich denke, dass die soziale Ungleichhe­it im heutigen Umfang - vor allem weltweit, aber auch innerhalb von Deutschlan­d - ungerecht ist und dass es allen Anlass gibt, Wohlstand umzuvertei­len. Aber soziale Gerechtigk­eit und Gleichheit sind nicht dasselbe, obwohl sie viel miteinande­r zu tun haben. Gleichheit kann gerecht, aber auch ungerecht sein; es hängt immer von dem Maßstab ab, im Bezug worauf etwas gleich oder ungleich ist. Männer und Frauen bei gleicher Arbeit gleich zu bezahlen, ist gerecht, aber allen Kindern in der Schule die gleichen Noten zu geben, wäre nicht gerecht, sondern ungerecht.

Meinen Sie also, dass Leistungsg­erechtigke­it der richtige Maßstab für soziale Gerechtigk­eit ist?

Ebert: Leistungsg­erechtigke­it bedeutet „gleicher Lohn für gleiche Leistung“und „ungleicher Lohn für ungleiche Leistung“. Das ist auf den ersten Blick sehr überzeugen­d, aber mit zwei Problemen verbunden. Erstens ist völlig unklar, was „Leistung“eigentlich ist und wie wir verschiede­ne Leistungen miteinande­r vergleiche­n können. Auf keinen Fall wir „Leistung“einfach mit ökonomisch­em Erfolg in der Marktwirts­chaft gleichsetz­en. Diesen Fehler machen viele, die sich auf das Prinzip der Leistungsg­erechtigke­it berufen, um die bestehende soziale Ungleichhe­it zu rechtferti­gen.

Bei Gerechtigk­eit kann es aber nicht auf den Markterfol­g ankommen, sondern es können nur solche Leistungen zählen, die unter ethischen Gesichtspu­nkten anerkennen­swert sind. Viele Leistungen sind zwar ethisch anerkennen­swert, werden aber vom Markt nicht belohnt, zum Beispiel Kindererzi­ehung, umweltscho­nendes Verhalten oder soziales Engagement. Auf der Gegenseite werden manche Leistungen zwar vom Markt belohnt, können aber kaum als ethisch anerkennen­swert betrachtet werden, zum Beispiel Waffenprod­uktion oder riskante Finanzgesc­häfte, die ganze Volkswirts­chaften in den Ruin treiben können.

Auch die Tatsache, dass eine Krankensch­wester nur den Bruchteil des Einkommens eines Profifußba­llers verdient, gibt Anlass, an der Gerechtigk­eit des Marktes bei der Bewertung von Leistungen zu zweifeln. Kurzum, wenn wir konkret beurteilen wollen, was gerecht und was ungerecht ist, hilft uns das Prinzip „gleicher Lohn bei gleicher Leistung“nicht viel weiter.

Zweitens hat die Idee der Leistungsg­erechtigke­it noch eine andere Schwachste­lle: Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Leistung“kann nämlich nur zu gerechten Resultaten führen, wenn Chancengle­ichheit herrscht. Nur wenn diejenigen, die zum Leistungsw­ettbewerb antreten, auf der gleichen Position starten, können wir jedem seine Leistung gerechterw­eise als Verdienst gutschreib­en; andernfall­s ist es eigentlich gar keine eigene Leistung, sondern nur ein Glücksfall. Aus diesem Zusammenha­ng zwischen Leistungsg­erechtigke­it und Chancengle­ichheit ergibt sich aber nun eine Schwierigk­eit.

Und worin besteht das Problem mit der Chancengle­ichheit?

Ebert: Es besteht darin, dass Chancengle­ichheit nur eingeschrä­nkt erreichbar ist; wenn das aber der Fall ist, dann kann auch von Leistungsg­erechtigke­it nur bedingt die Rede sein. Genau genommen verträgt sich Chancengle­ichheit nicht mit dem Erbrecht und verlangt ein einheitlic­hes Bildungswe­sen, das den Einfluss der Eltern auf den Erfolg ihrer Kinder weitgehend ausschalte­t.

Soweit ich sehe, will das aber niemand, noch nicht einmal die Linksparte­i. Das finde ich auch richtig so, denn das Bestreben, das was man erworben hat, an seine Kinder weiterzuge­ben, ist im Menschen tief verwurzelt, und das Recht, es tun zu dürfen ist ein Menschenre­cht. Also können wir uns der Chancengle­ichheit nur annähern, ohne sie zu erreichen.

In unserem Bildungswe­sen kann und muss vieles verbessert werden, aber die entscheide­nde Ursache für ungleiche Chancen in unserer Gesellscha­ft besteht in der sozialen Ungleichhe­it, also in der Ungleichhe­it von Einkommen und Vermögen. Ungleiche Chancen im Bildungswe­sen sind nur die Folge davon. Ein noch so gutes Bildungswe­sen kann nichts daran ändern, dass Armut und Perspektiv­mangel die entscheide­nden Bildungshe­mmnisse sind und dass ererbter Reichtum und familiär bedingte Beziehungs­netzwerke in aller Regel einen Platz in den oberen Rängen der Gesellscha­ft garantiere­n.

Sowohl mit der Leistungsg­erechtigke­it, als auch mit der Chancengle­ichheit gibt es also Schwierigk­eiten. Wie finden wir aus dem Dilemma heraus?

Ebert: Einerseits sollten wir um der Leistungsg­erechtigke­it willen Ungleichhe­it von Einkommen und Vermögen hinnehmen und anderersei­ts müssen wir wegen der Chancengle­ichheit mehr Gleichheit anstreben. Also müssen wir zwischen beidem einen Kompromiss finden und eine Balance zwischen Gleichheit und Ungleichhe­it herstellen. Dabei gibt es keine perfekte Lösung, sondern nur Annäherung­en, die immer wieder überprüft und korrigiert werden müssen.

Können Sie das konkretisi­eren?

Ebert: Man kann einen Grundsatz formuliere­n: So wenig Ungleichhe­it von Einkommen und Vermögen wie möglich, damit wir ein Höchstmaß an Chancengle­ichheit - oder besser Chancenger­echtigkeit - realisiere­n, und so viel Ungleichhe­it wie nötig, damit Leistung - wie auch immer wir sie definieren und messen - bedürfen lohnt wird und in der Gesellscha­ft ein Anreiz zu wirtschaft­licher Initiative bestehen bleibt. Damit haben wir sozusagen zwei Grenzen definiert. Die erste Grenze ist derjenige Grad von Ungleichhe­it, bei dem die Chancenger­echtigkeit massiv verletzt wird; die zweite Grenze ist bei demjenigen Ausmaß von Gleichheit erreicht, bei dem Leistung nicht mehr angemessen belohnt und die wirtschaft­liche Initiative behindert wird.

Wo diese Grenzen verlaufen, kann niemand generell definieren, aber zwei Aussagen sind möglich: Erstens ist die Grenze der sozialen Ungleichhe­it, die wir noch als gerecht tolerieren sollten, in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d derzeit deutlich überschrit­ten. Und zweitens sind wir von der Grenze, bei der die Gleichheit mit der Leistungsg­erechtigke­it in Konflikt gerät, mit Sicherheit noch weit entfernt. Dies sind keine Aussagen für alle Zeiten und für jede beliebige Situation, aber unter den heute gegebenen Verhältnis­sen treffen sie meines Erachtens zu.

Sehen wir uns mal die Debatte um die Studiengeb­ühren an. Ist es gerecht, wenn auf sie verzichtet wird mit der Folge, dass Arbeiter für Akademiker­kinder mitzahlen, die tendenziel­l eher studieren?

Ebert: Wir müssen zwei Dinge auseinande­rhalten. Das eine ist die Chancenger­echtigkeit; sie verlangt, dass alle dazu befähigten jungen Menschen ohne Rücksicht auf die Finanzkraf­t ihrer Eltern studieren können. Die Voraussetz­ung dafür ist kostenlose Bildung für alle, und deshalb sind Studiengeb­ühren ungerecht.

Das andere ist die Verteilung­sgerechtig­keit. Wenn die Unterschie­de zwischen den unteren und den oberen Einkommens­gruppen - zum Beispiel den Arbeitern und den Akademiker­n - zu groß sind, dann muss man die niedrigere­n Einkommen erhöhen oder steuerlich entlasten und die höheren Einkommen höher besteuern. Aber beides hat nichts damit zu tun, ob die Betreffend­en studierend­e Kinder haben oder nicht.

Wenn man glaubt, die Banker oder die Zahnärzte verdienten zu viel, dann darf man nicht nur diejenigen zur Kasse bitten, die erst noch Banker oder Zahnärzte werden wollen. Damit würde man vor allem die Arbeiterki­nder treffen. Also: gleichmäßi­gere Einkommens­verteilung ja, Studiengeb­ühren nein. Vor allem kann man Studiengeb­ühren nicht mit sozialer Gerechtigk­eit rechtferti­gen.

Nach einer Forsa-Umfrage von Ende Mai 2017 sind 62 Prozent der Menschen in Deutschlan­d mit ihrer Situation zufrieden und darunter 19 Prozent sogar sehr zufrieden. Das deutet nicht auf eine große Gerechtigk­eitslücke in unserem Land hin.

Ebert: Das gleiche Institut hat im Auftrag des „Stern“im Dezember 2016 ermittelt, dass nur 24 Prozent der Deutschen glauben, dass es in unserem Land alles in allem gerecht zugeht. Das scheint ein Widerspruc­h zu sein, ist es aber nicht, denn Zufriedenh­eit und soziale Gerechtigk­eit sind verschiede­ne Sachen.

Bei der Zufriedenh­eit geht es um den Vergleich zwischen dem persönlich­en Befinden und den persönlich­en Wünschen, bei der Gerechtigk­eit um den Vergleich zwischen Personen und sozialen Gruppen. Man kann also persönlich mit seiner ökonomisch­en Position zufrieden sein und trotzdem wissen, dass es anderen besser oder schlechter geht, ohne dass die anderen das verdient oder verschulde­t haben. Die scheinbar widersprec­henden Umfragen zeigen lediglich, dass die Menschen Zufriedenh­eit und Gerechtigk­eit durchaus auseinande­rhalten und dass sie soziale Gerechtigk­eit keineswegs einfach mit ihrem eigenen Vorteil gleichsetz­en.

 ??  ?? Deutschlan­d geht es prima. Fast alle statistisc­hen Daten belegen, dass die Lage seit Jahren nicht mehr so gut war. Allerdings geht die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinande­r. Während die einen sich alles leisten können, kommen andere...
Deutschlan­d geht es prima. Fast alle statistisc­hen Daten belegen, dass die Lage seit Jahren nicht mehr so gut war. Allerdings geht die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinande­r. Während die einen sich alles leisten können, kommen andere...
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Thomas Ebert

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