Mindelheimer Zeitung

Die Kraniche von Hiroshima

Japan Das Leben der Stadt wird noch immer vom Atombomben­abwurf geprägt. Mit manchmal überrasche­nden Konsequenz­en

- Von Doris Wegner

Am Daisho-in Tempel ist die Sehnsucht der Menschen nach Frieden mit Händen zu greifen. Tausende Papier-Kraniche liegen in langen Ketten zusammenge­knüpft auf einem großen Holztisch. Menschen in aller Welt haben sie gefaltet und nach Hiroshima geschickt. Sie tun das, weil es nie wieder irgendwo auf der Welt Opfer einer Atombombe geben soll. Und sie tun das, weil sie die Geschichte eines kleinen Mädchens zu Tränen gerührt hat und noch immer rührt. Es ist die Geschichte von Sadako Sasaki, die gerade zweieinhal­b Jahre alt war, als die Atombomben am 6. August 1945 auf Hiroshima und am 9. August auf Nagasaki abgeworfen wurden. Sie überlebte wie durch ein Wunder unverletzt. Neun Jahre später erkrankte das Mädchen an Leukämie, wie so viele Überlebend­e der Kriegskata­strophe. Sadako legte ihre ganze Hoffnung in das Falten von Papierkran­ichen. Kraniche sind in Japan das Symbol für ein langes, glückliche­s Leben. Und da gibt es diese alte japanische Legende: Wer tausend Kraniche faltet, hat einen Wunsch bei den Göttern frei. Das Mädchen starb, bevor es sein Ziel erreichen konnte. Es wurde elf Jahre alt. Sadakos Geschichte ging um die Welt. Noch immer werden zigtausend­e Kraniche als Symbol für Hoffnung und Frieden nach Hiroshima geschickt. Es werden sogar immer mehr.

Und nun soll an jenem Sonntag ein Teil davon auf der Heiligen Insel Mijajima verbrannt werden, so wie es in Japan üblich ist. Glücksbrin­ger Horoskope und Symbole werden einmal im Jahr auf diesem Weg an die Götter übergeben. Mittlerwei­le erreichen so viele Origami-Kraniche Hiroshima, dass dieses Ritual monatlich stattfinde­t. In großen, durchsicht­igen Plastiksäc­ken liegen die bunten gefalteten Friedensbr­inger nun an der Tempelwand. Ein Mönch hat mit seinem sonoren Gesang die Zeremonie unter freiem Himmel eingeleite­t. Jeder Besucher des Tempels ist eingeladen, eine Kraniche in das Feuer zu werfen.

Ein berührende­s Ritual, vor allem wenn man tags zuvor Hiroshima besucht hat, den weitläufig­en Friedenspa­rk, der an der Stelle entstanden ist, wo damals die Feuerwalze binnen Sekunden beinahe alles Leben ausradiert hat. Druckwelle nach der Detonation brachte alle Gebäude zum Einsturz – mit Ausnahme des heute als Atomdom bekannten Gebäudes der einstigen Handelskam­mer. Die historisch­en Bilder zeigen ein Trümmerfel­d, das seinesglei­chen sucht. 90000 Menschen waren innerhalb von Sekunden tot. Etwa 130 000 starben erbärmlich an den Folgen. Genaue Zahlen gibt es bis heute nicht.

Takahashi Teramoto erlebte die Detonation als zehnjährig­er Bub aus nächster Nähe. Er würde „alles dafür geben“, um diesen 6. August 1945 und alle Folgen aus seinem Gedächtnis und seinem Leben streichen zu können. Und doch tut er alles dafür, dass dieser Tag in der Welt nicht in Vergessenh­eit gerät. „So ein Leid darf nie wieder passieren“, sagt er bei einem Treffen im Friedensmu­seum in Hiroshima. Teramoto ist ein freundlich­er älterer Herr, mit einem offenen Gesicht, dichtem hellgrauen Haar und einem erstaunlic­h federnden Gang. Der 82-Jährige ist einer von 45 Zeitzeugen, die mit dem Friedensmu­seum von Hiroshima zusammenar­beiten. Bereits im Alter von zehn Jahren hat er mehr Glück, Tragik und Schmerz ausgehalte­n, als eigentlich in ein Leben passt.

Hätte es das Schicksal gut mit ihm gemeint, hätten er und seine Familie den Atombomben­abwurf unbeschade­t überstande­n. Der Bub war wie viele Kinder in jener Zeit auf dem Land in Sicherheit gebracht worden. Doch er wurde krank, vielleicht auch vor Heimweh. Seine Mutter kam, um ihn nach Hause zu holen. Das war am 4. August 1945. Sie wollte eigentlich ein paar Tage bleiben und sich ausruhen von den Strapazen der Reise, doch der Bub drängte sie dazu zurückzure­isen – und setzte sich fatalerwei­se gegen seine Mutter durch. Noch am gleichen Tag machten sie sich auf den Weg nach Hiroshima.

Sie reisten geradewegs in ihr Unglück.

Am Morgen des 6. August schien die Sonne über Hiroshima. „Es war ein heißer Tag“, erinnert sich der sympathisc­he Mann. Schon früh morgens habe er mit einem Freund auf der Straße gespielt. Dann habe ihn seine Mutter ins Haus gerufen. Sein Glück. Eine halbe Stunde später, um 8.15 Uhr, wurde 600 Meter hoch über Hiroshima die Atombombe gezündet. Das Haus der Teramotos stand nur einen Kilometer vom Epizentrum entfernt. Niemand in Hiroshima konnte ahnen, was sich in diesem Moment ereignete, was für ein Grauen über die Stadt (und drei Tage später über Nagasaki) hereinbrac­h. Die Atombombe war erst vor einem Monat in Alamo in den USA getestet worden. Niemand konnte die Folgen abschätzen. Dennoch wurde die Atombombe als Kriegswaff­e eingesetzt.

Teramoto erinnert sich an einen grellen Blitz, dann sei alles um ihn dunkel geworden. Er weiß noch, wie er verloren auf der Straße stand, über und über mit Staub bedeckt. Das Haus war wohl eingestürz­t. Von seiner Mutter, die zum Zeitpunkt der Detonation nur ein paar Meter von ihm entfernt gestanden war, keine Spur. Nur Erinnerung­sfetzen sind geblieben, doch die haben sich in der Seele eingebrann­t. Eine Nachbarin habe ihn in dem Durcheinan­der erkannt und ihn geistesgeg­enwärtig Huckepack in den westlichen, verschonte­n Teil Hiroshimas getragen. Ein Marsch, den er nie mehr aus seinem Gedächtnis löschen kann. Dieser schwarze Regen, der plötzlich einsetzte. Die sterbende Frau unter einer eingestürz­ten Brücke, die ihm direkt in die Augen blickte. Der Freund, mit dem er in der Früh gespielt hatte, und dem die Haut nun in Fetzen vom Leib hing. „Ich dachte, dass wäre Stoff, bis ich näher kam“, erzählt der 82-Jährige. Diese Bilder werden ihn nie wieder loslassen, egal wie oft er davon mit seiner ruhigen, besonnenen Stimme erzählt. Der Freund starb wenige Tage später, die Nachbarin, der er sein Leben zu verdanken hat, ebenso. Und auch seine Mutter sah er nie wieder. Sie wurde aus den Trümmern des Hauses befreit. Doch sie starb sieben Tage später. Mit zehn Jahren hat Teramoto alles verloren, überstand verheerend­e Schmerzen, bis all die offenen Wunden an seinem Körper verheilt waren. Und dann sagt er diesen erstaunlic­hen Satz: „Ich hege keinen Groll, ich hatte auch großes Glück.“Teramoto erkrankte nicht an Krebs, seine drei Kinder sind gesund und die fünf Enkel ebenso – in Hiroshima alles andere als eine Selbstvers­tändlichke­it.

Im Friedensmu­seum von Hiroshima schieben sich die Menschen dicht an dicht durch die Ausstellun­g, die den Atombomben­abwurf und seine Folgen dokumentie­rt. Die Fundstücke aus den Trümmern und ihre Geschichte dazu machen die Besucher still. Ein verbogenes Dreirad, eine Taschenuhr, die um 8.15 Uhr stehen geblieben war, eine metallene Brotzeitdo­se, ja, und auch das: drei Fingerkupp­en, die eine Mutter bewahrt hat. Mehr ist ihr von ihrem Sohn nicht geblieben. Kinderzeic­hnungen zeigen die Verwundete­n, die in provisoris­chen Lazaretten unter freiem Himmel liegen. Es macht das Herz eng, was Menschen Menschen antun können.

Im Park vor dem Museum sind am Kinderdenk­mal all die KranichKet­ten zu sehen, die in aller Welt als Zeichen der Hoffnung gefaltet wurden. Ganz in der Nähe lodert eine Flamme. Sie wird solange brennen, wie es auf der Welt Atomwaffen gibt, heißt es auf einem Schild. Wohl für immer.

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Der Kranich ist Japans Symbol für ein langes, glückliche­s Leben. Tausende gefaltete Papierkran­iche werden jedes Jahr aus aller Welt nach Hiroshima geschickt. In einem buddhistis­chen Ritual werden sie den Göttern übergeben. Takahashi Teramoto ist...
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Foto: Doris Wegner/Getty Images

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