Muss „Oma Ingrid“ins Gefängnis?
Gerechtigkeit 83-jährige Rentnerin aus Bad Wörishofen droht eine neunmonatige Gefängnisstrafe, weil sie wegen mehreren Ladendiebstählen rechtskräftig verurteilt wurde. Sie klaute aus Hunger Lebensmittel im Wert von 70,11 Euro
Es ist paradox: Nahezu alle statistischen Daten zeigen, dass es Deutschland so gut geht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Bayern und Baden-Württemberg stehen dabei besonders gut da. Im Unterallgäu herrscht Vollbeschäftigung. Dennoch beschleicht immer mehr Menschen das Gefühl, dass es in der Gesellschaft weniger gerecht zugeht. Die einen werden immer reicher, die anderen wissen kaum noch, wie sie genügend Geld zusammenbekommen sollen, um ihr Leben zu finanzieren. Wie gerecht geht es bei uns zu? Dieser Frage gehen wir nach.
Bad Wörishofen „Muss ich jetzt wirklich ins Gefängnis?“, fragt Ingrid Millgramm mit zittriger Stimme und hält dabei hilflos einen Bescheid der Staatsanwaltschaft Memmingen vor sich. Und tatsächlich – wenn die bayerische Justiz nicht doch noch im letzten Moment Gnade vor Recht ergehen lässt, dann wird die 83-jährige Rentnerin aus Bad Wörishofen hinter Gitter kommen.
Sie wurde verurteilt, weil sie gestohlen hatte: Fünf Mal wurde sie erwischt, als sie in Supermärkten in Bad Wörishofen etwas eingesteckt hatte. Insgesamt geht es um eine Summe von 70,11 Euro. Vier mal waren es Lebensmittel in einem Supermarkt, einmal waren es Taschentücher in einem Drogeriemarkt. Beide Läden liegen nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt und auch wenn die Diebstähle schon mehrere Jahre zurückliegen: Sie schämt sich noch heute dafür, sagt die gebürtige Rheinländerin und kämpft mit den Tränen.
Sie habe andere beim Ladendiebstahl beobachtet und habe sich gedacht: „Dann kann ich das auch ...“Sie musste monatelang auf das ausstehende Geld vom Sozialamt warten, und war psychisch und physisch am Ende, erinnert sie sich: „Ich hatte Hunger, ich hatte wirklich nichts zu essen.“Und dann riet ihr der Hausarzt, sie sollte sich doch besser ernähren, weil schon erste Mangelerscheinungen aufgetreten seien: „Ich habe wochenlang nur noch von Knäckebrot und Leitungswasser gelebt.“
Da griff sie zu, klaute beim ersten Mal Fleisch, das aber bereits im Preis heruntergesetzt war: „Ich habe extra die reduzierten Waren gestohlen“, sagt sie. Dann war es Hackfleisch, einmal Suppenfleisch, weil sie so einen Appetit auf eine leckere Suppe hatte, die ihr wieder Kraft geben sollte. Und einmal war es ein Paket Knäckebrot, das sie einsteckte, gibt sie reumütig zu.
Sie wolle auch gar nichts schön reden – sie weiß, dass sie mit ihren Ladendiebstählen Unrecht begangen hat. Aber sie versteht nicht, dass niemand ihre Notlage berücksichtigt, in der sie sich damals befunden habe: Aus ihrer Sicht war es die blanke Not, die sie zu dieser Dummheit betrieben hatte: Sie war bitterarm, hatte beim Börsencrash 2001 alle ihre Ersparnisse verloren, die ihr Mann in den USA angelegt hatte. Da stand das einst wohlhabende Paar plötzlich vor dem Nichts, war gerade ins Unterallgäu umgezogen. Im gleichen Jahr verstarb dann auch noch ihr Mann im Alter von 63 Jahren.
Heute lebt die Rentnerin in einer Wohnung im zweiten Stock, sie muss mit 715 Euro Rente und 123 Euro Grundsicherung zurechtkommen. Nach Abzug der Fixkosten wie Miete, Strom und die für ihre chronischen Krankheiten lebenswichtigen Medikamente bleiben ihr gerade einmal rund 100 Euro zum Leben. Sie will dennoch keine Hilfsangebote wie die Tafel oder Ähnliches annehmen – wie viele Menschen ih- rer Generation schämt sie sich viel zu sehr für ihre Altersarmut.
Immerhin hat die gelernte Schneiderin 45 Jahre lang hart gearbeitet, ihr selbstständiger Mann verdiente gut – und jetzt reicht ihre karge Rente hinten und vorne nicht. Wichtig ist ihr nach wie vor aber ihre Würde: Man sieht der rüstigen Frau weder ihr hohes Alter noch ihre Armut an. Sie ist perfekt frisiert und geschminkt, trägt ein modisches Kleid und lebt in einer perfekt aufgeräumten Wohnung, in der man die Liebe zum Detail überall erkennen kann.
Alles wirkt so normal, so vertraut – und doch schwebt über der 83-Jährigen das Damoklesschwert einer neunmonatigen Haftstrafe. Für ihre Ladendiebstähle wurde sie zunächst mit einer Geldstrafe belegt, die sie jedoch nicht zahlen konnte. Danach folgten noch zwei Prozesse, die beide mit Bewährungsstrafen endeten.
Weil sie sich so ungerecht behandelt fühlte und weil sie keinen anderen Ausweg mehr sah, griff sie kurzerhand zum Telefonhörer und rief bei der Bild-Zeitung an – und nicht nur das Boulevardblatt, sondern auch mehrere TV-Formate im Privat-Fernsehen und Klatschblätter stürzten sich auf diese Geschichte: Als „Oma Ingrid, die vor Hunger klaute“wurde sie deshalb bekannt – eine Art der Publicity, die der 83-Jährigen jetzt gar nicht mehr so ganz geheuer ist. „Hoffentlich hat das ganze Tohuwabohu nicht erst dafür gesorgt, dass die Justiz jetzt so unnachgiebig ist“, fürchtet sie. Ihre Stimme zittert wieder, als sie das sagt und in ihren Unterlagen blättert, die inzwischen schon einen ganzen Ordner füllen. Denn jetzt scheint die Memminger Justizbehörde keine Gnade mehr zu Kennen: Das Amtsgericht hat ihr schriftlich mitgeteilt, dass sie ihre neunmonatige Haftstrafe antreten muss.
Ihre letzte Hoffnung war eine Untersuchung beim Amtsarzt in der vergangenen Woche – doch der erkannte eindeutig die Haftfähigkeit der 83-Jährigen an. Aus Sicht des Gutachters sei es der Rentnerin durchaus zuzumuten, ihre Haftstrafe abzusitzen. Zwar attestierte er ihr mehrere chronische Krankheiten – doch sei die medizinische Versorgung in einer Haftanstalt gut genug, damit keine Gefahr für die Gesundheit der hochbetagten Rentnerin bestehe.
Das hohe Alter und der Gesundheitszustand von Ingrid Millgramm seien beim Urteil bereits berücksichtigt worden, dennoch bestehe aus Sicht der Staatsanwaltschaft Memmingen derzeit kein Ermessensspielraum: „Der Gutachter hat die Haftfähigkeit von Frau Millgramm bestätigt und ein unabhängiges Gericht hat entschieden, dass die Sozialprognose für Frau Millgramm schlecht ist und mit weiteren Straftaten zu rechnen sei“, so der Leitende Oberstaatsanwalt Christoph Ebert auf Anfrage der
Mindelheimer Zeitung. Die Staatsanwaltschaft müsse die richterlichen Entscheidungen vollstrecken, wenn sie sich nicht selbst strafbar machen wolle.
Akut müsse sich Ingrid Millgramm zwar keine Sorgen machen, dass sie schon in den nächsten Wochen ins Gefängnis gesteckt wird, betonte Ebert. Denn: Noch stünden Rechtsmittel zur Verfügung, die von der Pflichtverteidigerin der Rentnerin ausgeschöpft werden können. Und selbst wenn dann immer noch eine Haft im Raum stehe, bestehe auch die Möglichkeit, ein „Gnadengesuch“an die Staatsanwaltschaft zu richten, über das dann dort oder letztlich sogar vom Justizminister entschieden werde.
Ingrid Millgramm kann es kaum fassen, doch sie ist vorbereitet: In ihrem blitzsauber aufgeräumten Schlafzimmer stehen die gepackten Koffer – sie rechnet jederzeit damit, dass sie die Haftstrafe antreten muss. Alleine diese Angst, dieser psychische Druck, machen ihr aber schwer zu schaffen.
„Ich weiß, dass ich die Ladendiebstähle nicht mehr gutmachen kann. Das tut mir auch so leid und es ist schon richtig, wenn ich dafür bestraft werde. Aber so hart? Neun Monate Gefängnis wegen 70,11 Euro. Ist das gerecht?“Sie sagt das und blättert wieder in ihren Unterlagen.
Mit Tränen in den Augen murmelt sie „Ich werde bestimmt nie wieder etwas stehlen. Warum glaubt man mir das denn nicht?“