Mit Hercules in die Vergangenheit
Auf einer Radtour rund um Türkheim und Rammingen liegen bedrückende und erfreuliche Momente nah beieinander
Türkheim „Jesus Maria, worauf habe ich mich da nur eingelassen?“, geht es mir durch den Kopf, als ich bei gefühlten 30 Grad zu meiner Fahrradtour für die Benefizaktion „Fahr Rad!“aufbreche. „Selbst schuld!“, denken Sie sich jetzt vielleicht, aber in meinem Fall stimmt das so nicht ganz. Schließlich bin ich erst seit Kurzem freier Mitarbeiter der Mindelheimer Zeitung und kann wohl schlecht Nein sagen, als ich mit der Frage geködert werde: „Hast du nicht Lust, heute Nachmittag ein bisschen rauszukommen?“
Nun finde ich mich auf meinem mintgrünen Fahrrad der Marke Hercules, Baujahr irgendwann zwischen 1960 und 1970, wieder. Übrigens: Eine Schaltung blieb diesem Modell, und somit auch mir, verwehrt.
Derart ausgestattet beginnt meine Tour vor der Kirche Mariä Himmelfahrt in Türkheim. Nach dem ich zum ersten Mal die Reibung zwischen Reifen und Asphalt überwunden habe, trägt mich mein Fahrrad rasch die Maximilian-Phillip-Straße entlang in Richtung Süden. Bereits nach wenigen Metern halte ich zum Ersten mal am Straßenrand. Vor mir die Grundschule Türkheim, welche ich vor zehn Jahren besuchen durfte. „Hier hat sich auch überhaupt nichts verändert“, staune ich und entdecke die ersten Rad-Wegweiser. Die werde ich zur Orientierung auch brauchen, nachdem ich mein Handy heute mal bewusst daheim gelassen habe. In letzter Zeit habe ich mich nämlich bei jeder unbekannten Strecke, sei es beim Auto- oder Radfahren, von der App „Google Maps“lotsen lassen. Dabei hatte ich zuletzt immer stärker das Gefühl, meine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Das soll mir heute nicht passieren und meinem Orientierungssinn wird es auch nicht schaden.
Mit solchen Gedanken begebe ich mich also auf den Radweg Richtung Türkheim Bahnhof. Wie oft bin ich diese Strecke schon gefahren? Wie oft haben mit ihr schon unvergessliche Abende begonnen? Allerdings wollte ich sie da immer so schnell wie möglich hinter mich bringen, um endlich zur Party oder von dort wieder nach Hause zu kommen. Hier nun mal in gemütlichem Tempo zu radeln und meine Gedanken schweifen zulassen, hat etwas Besonderes. Und es schärft den Blick für die wunderschöne Unterallgäuer Landschaft.
Bald erreiche ich Türkheims ausgelagerten Bahnhof mit dem umgebenden Wohngebiet. Hier folge ich der Alfred-Drexel-Straße und biege rechts in einen Feldweg ab. Ein Schild des Gasthofs Waldfrieden lockt mit einem gemütlichen Aufenthalt, den ich jedoch eisern ausschlage. Bis zu meiner ersten Rast habe ich mir definitiv noch ein paar Kilometer vorgenommen.
Nach dem Gasthof biege ich also scharf rechts ab und folge dem Waldweg. Nach wenigen Minuten entdecke ich direkt am Waldrand mehrere Schrebergärten. Vielleicht ist diese Radtour doch nicht das Schlechteste, was mir heute passieren konnte.
Doch so beschaulich die bunten Gärten sind, so bedrückend ist mein nächster Halt am KZ-Friedhof und der Gedenkstätte. 1944 wurde dort das KZ-Außenlager Kaufering VI errichtet, in dem mehr als 1200 Juden inhaftiert waren. Der Gedanke an die vielen Menschen, die hier unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt waren, setzt mir zu. Ich finde es ausgesprochen wichtig, sich der Gräueltaten bewusst zu sein, die auch in unserer Region begangen wurden. Nur so können wir gewährleisten, dass sie sich nicht wiederholen.
Hier begegne ich auch zwei Mädchen, die aus genau diesem Grund hergekommen sind: Leonie Rösch aus Stockheim und Mia Städele aus Bad Wörishofen haben bei der Besichtigung des Holocaust-Mahnmals in Berlin erfahren, dass es auch bei ihnen zuhause ein solches Denkmal gibt. Die Neugier und das Interesse an der Geschichte führten sie dann letztendlich hierher. Respekt, für die Reife, die Leonie und Mia bereits in so jungen Jahren zeigen. Eine schöne Begegnung, über die ich mich wirklich gefreut habe.
Dann geht es weiter auf dem offiziellen Radweg. Allmählich schmerzt mein Hintern doch arg. Die Sättel in den 70er Jahren waren einfach noch nicht so auf Komfort ausgelegt wie heute. Im Schweiße meines Angesichts radle ich also vorbei an Wiesen und Maisfeldern hinein ins schöne Rammingen. Erfreut erblicke ich den Gasthof Stern, von dem ich mir eine kühle Erfrischung sowie einige Minuten Ruhe erhoffe. Beides gewährt mir die Wirtin Martina Hammerl mit Vergnügen. In dem geselligen Biergarten des Gasthofs genieße ich den Schatten, den die schönen Kastanien spenden.
Frisch gestärkt folge ich nun der Hauptstraße Richtung Unterrammingen. Sehr schön liegt hier am Straßenrand die Kapelle „Unsere Liebe Frau“. Nach einigen Minuten Fahrt biege ich in die Bahnhofstraße ab. Dort geleiten mich die prächtigen Bäume links und rechts der Straße zum Ziel meiner Tour: dem Braustadel. Voller Euphorie bewältige ich also die letze Etappe, um letztendlich erschöpft aber glücklich oben anzukommen. Endlich geschafft!
So und jetzt lass ich mir ein Glas Beerlewein schmecken. Das muss schon sein, schließlich ist der über die Grenzen des Unterallgäus hinaus berühmt. Der Wirt empfiehlt mir die Sorte Kirsch. Ich empfehle, den guten Tropfen in Maßen zu genießen. Denn bereits nach dem ersten Schluck merke ich, dass der Wein deutlich stärker ist als erwartet. Trotzdem aber köstlich. So sitze ich also am Ende hier mit einem guten Wein und lasse meinen geplagten Körper von der Sonne wärmen. Da muss ich an Goethe denken, der in seinem „West-östlichen Divan“geschrieben hat: „Für Sorgen sorgt das liebe Leben. Und Sorgenbrecher sind die Reben.“