Die Qual der ersten Wahl
Marcos und Mustafa aus Mindelheim haben an einer Diskussion mit den Bundestagskandidaten teilgenommen. Auf viele Fragen bekamen sie dort eine Antwort – nur nicht darauf, wen sie wählen sollen
Mindelheim Marcos Schuster aus Mindelheim darf zum ersten Mal wählen. Bei wem er seine Kreuzchen setzt, weiß er noch nicht. In jedem Fall will der 18-Jährige, dessen Wurzeln in Deutschland und Brasilien liegen, eine informierte Entscheidung treffen. „Keiner Partei stimme ich voll und ganz zu“, sagt Marcos, „richtige Ansichten sind aber bei so gut wie allen dabei.“Für Politik interessiert er sich schon länger, doch um sich eine Meinung zu bilden liest er seit einigen Wochen aufmerksam die Zeitung, Nachrichten im Internet und sieht sich politische Sendungen im Fernsehen an, erzählt er. Seine Freundin Emily nickt. Eine handfeste Debatte mit den Bundestagskandidaten seines Wahlkreises konnte Marcos kürzlich im Jugendcafé Frox in Mindelheim verfolgen – und hat dabei die Chance genutzt, die Volksvertreter mit seinen Fragen und Anliegen zu konfrontieren. Wie schwierig die Wahl für ihn werden wird, offenbarte sich Marcos gleich zu Beginn der Veranstaltung. Moderator Johann Stoll, Redaktionsleiter der
warf die Frage auf, worin die Kandidaten die größten politischen Herausforderungen der kommenden Jahre mit Blick auf die Jugend sähen. Für Stephan Stracke (CSU) und Pascal Lechler (SPD) sind diese im Bereich Ausbildung zu verorten. Das ist in Marcos Augen richtig. Vor Kurzen hat er eine Lehre als Koch begonnen, monatlich bleiben ihm rund 450 Euro übrig – zu wenig für eine eigene Wohnung und ein Auto, was sich andere junge Erwachsene mit ihren Einkünften leisten können. Daher stimmt er auch Susanne Ferschl (Die Linke) zu, die sich für eine sozialere, gerechte Gesellschaft ausspricht. Günter Räder (Grüne) hob den Umweltschutz hervor, Jürgen Eißner (Bayernpartei) unterstrich die Fähigkeit des Freistaats zur Eigenständigkeit.
Als die Flüchtlingspolitik in den Vordergrund rückt, nimmt die Debatte Fahrt auf. Auch Marcos schaltet sich ein. Woher das Geld für die vielen Flüchtlinge käme, will er wissen. Immerhin sei es an vielen anderen Stellen stets knapp. „Die Wirtschaftskrise vor einigen Jahren haben wir überstanden und seither gut gewirtschaftet“, erklärte ihm Susen Knabner (Freie Wähler).
Marcos Familie hat einen Migrationshintergrund. Vor 13 Jahren kam er als Kind mit seiner Mutter aus Südamerika nach Deutschland, das Heimatland seines Vaters. Marcos versteht sich sowohl als Deutscher als auch als Brasilianer. „Hin und wieder vermisse ich die brasilia- Lockerheit“, sagt der 18-Jährige. Doch auf das Sicherheitsgefühl hierzulande würde er nicht verzichten wollen. Sein Cousin ist in der brasilianischen Millionenstadt Curitiba dreimal binnen weniger Wochen überfallen worden, die Räuber nahmen ihm bis auf das Leben und seine Unterwäsche alles, erzählt Marcos. „So etwas ist hier nicht vorstellbar.“Die Schilderung von Christoph Maier (AfD), der von sich häufenden Übergriffen im Zusammenhang mit einem politischen Islam spricht, kann er daher nicht teilen.
Der sofortigen Abschiebung krimineller Zuwanderer stimmt Marcos hingegen zu. Warum das nicht schneller funktioniert, will er von den Bundestagskandidaten wissen und erfährt, dass das in vielen Fällen an unkooperativen Herkunftsländern liegt. Dass wir in Europa von besonderen Umständen und Chancen profitieren können, um die es sich vonseiten der Jugend zu kämpfen lohne, stellt der unabhängige Bürger-Kandidat Werner Fischer mehrmals heraus. Für den Fall seiner Wahl in das höchste politische Gremium Deutschlands verspricht er den Jugendlichen, 90 Prozent seines Abgeordnetengehalts für die Förderung der politischen Bildung in seinem Wahlkreis zur Verfügung zu stellen. Das imponiert Marcos, da er wenige Momente zuvor das Monische natsgehalt eines Bundestagsabgeordneten erfahren hat.
Auch Marcos’ Freund Mustafa, den er im Jugendcafé kennengelernt hat, verfolgt die Diskussion aufmerksam. Seit eineinhalb Jahren packt der 20-Jährige ehrenamtlich im Frox mit an, serviert Getränke und wischt die Theke ab. Das Tagesgeschehen verfolgt er üblicherweise über das Internet und fühlt sich ausreichend gut informiert. Wählen gehen darf Mustafa jedoch nicht, obwohl er in Deutschland geboren ist. Das liegt daran, das er seinen Pass erst kürzlich beantragen konnte. Eine Voraussetzung dafür war, dass er eine Lehrstelle findet. Die hat er nun zwar gefunden, allerdings wird er bei der kommenden Wahl auf seine Stimme noch verzichten müssen. „Halb so schlimm“, sagt Mustafa, der eine Ausbildung zum Postzusteller macht. „Ich wüsste sowieso nicht, wen ich wählen würde.“
Für sein Interesse an der Veranstaltung wurde er wie die übrigen Kinder und Jugendlichen von der Mehrheit der Kandidaten gelobt. Kurz vor Ende der Diskussionsrunde sorgte AfD-Kandidat Maier für Irritation, als er die politische Bildungsarbeit des Kreisjugendrings kritisierte. „Die Politisierung der Jugend deckt nicht das gesamte Spektrum ab“, sagte Maier, der den Verantwortlichen zudem indirekt unterstellte, die Jugendlichen tendenziös zu politisieren und das Abreißen von Wahlplakaten zu befürworten. Manche Räume, der Kreisjugendring einbezogen, sollten Maier zufolge politikfrei bleiben. „Die überparteiliche, politische Vorbildung zählt in den Aufgabenbereich der Organisation“, erwiderte Hans– Reinhard Jungbluth, Geschäftsführer des Kreisjugendring Unterallgäu. Das sehe die Bayerische Verfassung so vor.
Und auch Marcos konnte den Vorwurf nicht nachvollziehen. Die Kinder lernten im Kinderparlament, wie eine parlamentarische Demokratie funktioniert, während die Älteren im Frox gelegentlich über Politik diskutierten. „In eine Richtung gedrängt werden wir hier nicht“, sagt Marcos.