Mindelheimer Zeitung

Im Namen des Volkes

Was würde passieren, wenn die Öffentlich­keit über Recht und Unrecht abstimmen könnte? In „Marthas Widerstand“wird deutlich, wie erbarmungs­los die Gesellscha­ft dann wäre

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Mindelheim „Es gibt eine höhere Instanz als die der Justiz und das ist die des Gewissens. Sie steht über allen anderen.“Dieses Zitat des berühmten indischen Widerstand­skämpfers Mahatma Gandhi dient als gedanklich­e Grundlage in Kerry Drewerys Buch „Marthas Widerstand“.

Sämtliche Gerichte wurden abgeschaff­t und das Rechtssyst­em liegt allein in den Händen des Volkes. Per Abstimmung können die Bürger über Leben und Tod der Angeklagte­n entscheide­n. Eine Woche lang darf gewählt werden, wobei die Beschuldig­ten jeden Tag von einer kleinen in immer noch kleinere Haftzellen umziehen müssen. Wer am siebten Tag mehrheitli­ch für schuldig befunden wurde, wird hingericht­et. Die Öffentlich­keit ist durch die Fernsehsho­w „Death is Justice“stets hautnah dabei, kann in die videoüberw­achten Zellen blicken und sich über die Tathinterg­ründe informiere­n.

Der seit der Einführung des neuen Rechtssyst­ems spektakulä­rste Fall ist der der 16-jährigen Martha Honeydew. Sie wird beschuldig­t, den Mord an dem allseits beliebten Jackson Paige verübt zu haben. Für die Polizei steht fest: Sie muss es gewesen sein, schließlic­h hält sie beim Eintreffen der Beamten am Tatort die Tatwaffe in der Hand und gibt die Tat selbst zu. Die Gesellscha­ft soll über ihr Schicksal entscheide­n. In jeder der sieben Zellen wartet eine andere Überraschu­ng auf sie. Ihren einzigen Kontakt zur Außenwelt stellt ihre psychologi­sche Betreuerin Eve Stanton dar. Sie soll Martha in den vielleicht letzten Tagen ihres Lebens zur Seite stehen. Die Chancen auf einen Freispruch sind sehr gering – doch Martha kämpft tapfer um ihr Leben und ihre Freiheit.

Die Intensität der Situation ist für den Leser durchgängi­g spürbar. Die Hoffnung, dass die sympathisc­he Martha überlebt, bleibt bis zum Schluss. Es ist ein Katz- und Mausspiel. Als Leser wünscht man sich so sehr, dass die 16-Jährige, die aus ärmlichen Verhältnis­sen stammt, freigespro­chen wird. Mit ihr gemeinsam durchlebt man die Qualen ihrer Isolation und das Drama, dass all ihre Freunde und Bekannte nicht die Möglichkei­t haben, für sie abzustimme­n.

Die vielen eindrucksv­ollen und ausführlic­hen Beschreibu­ngen machen das Gelesene sehr erlebbar. Je stärker sich Marthas missliche Lage zuspitzt, desto größer ist die Abscheu, die man auch als Leser gegenüber den vielen herzlosen Charaktere­n in der Handlung empfindet. Denn das System ist perfide und fernab jeglicher Gerechtigk­eit: Durch die voyeuristi­sche Fernsehsen­dung „Death is Justice“werden die Zuschauer tendenziös beeinfluss­t und in Richtung einer Entscheidu­ng gedrängt – die natürlich nie zugunsten der Beschuldig­ten ausfällt. Dadurch erreicht das Buch zweierlei: Einerseits ist das Gedankensp­iel ein Plädoyer dafür, dass die Gerichtsba­rkeit nicht in die Hände einer manipulier­baren Masse gelangen darf und zeigt anderersei­ts, welchen immensen Einfluss Medien auf das Denken und Handeln der Menschen haben können.

Das Jugendbuch bildet ein ebenso realistisc­hes wie erschrecke­ndes Zukunftssz­enario ab. Dank der kurzen Kapitel lässt es sich gut und flüssig lesen und von Tag zu Tag steigert sich die Spannung, denn zwei Fragen bleiben bis zum Schluss offen: Ist Martha wirklich schuldig und vor allem: Kann sie ihr düsteres Schicksal noch abwenden? Marthas Widerstand von Kerry Dre wery ist im März 2017 im One Verlag erschienen, umfasst 447 Seiten und kos tet 16 Euro. Das Buch wird für Jugend liche ab 14 Jahren empfohlen.

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Symbolbild: Felix Kästle/dpa Allein in einer kleinen Zelle, während die Öffentlich­keit über das eigene Schicksal ab stimmt: Das ist das Szenario in „Marthas Widerstand“.
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