Mindelheimer Zeitung

Was der Kinosessel alles erzählt

- VON CHRISTIAN GALL kino@augsburger allgemeine.de

Alte Kinosäle sind ein besonderes Erlebnis. Durch die muffige Luft weht ein Hauch von Nostalgie. Der Besucher kann sich vorstellen, wie einst ein Projektor den Film flackernd auf die Leinwand geworfen hat. Das wahre Erlebnis liegt in solchen Kinosälen aber nicht im Film. Das wahre Abenteuer ist es, seinen eigenen Kinosessel zu erkunden.

Allein der Stoffbezug birgt Geschichte. Das Polyester wurde mit Tränen getränkt, als 1998 Leonardo DiCaprio der sinkenden Titanic in die Tiefen des Atlantiks folgte. Mit Schweiß geflutet, als Keanu Reeves sich 1994 von einem Stahlseil gehalten unter einen fahrenden Bus rollen ließ. Die Armlehnen weisen Kratzspure­n auf. Folge eines verkrampft­en Festkralle­ns, als 1991 ein kannibalis­cher Psychiater auf die Menschheit losgelasse­n wurde, um bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen.

Die Polsterung erzählt andere Geschichte­n. Im Lauf der Jahre drückten unzählige Hintern eine Vielzahl an Gruben in die Sitzfläche. Einen Durchschni­tts-Formabdruc­k quer durch die Gesellscha­ft. Manchmal musste das Polster hektische Rutschbewe­gungen abfedern, wenn der Zuschauer mit den Protagonis­ten mitgefiebe­rte. Bisweilen aber auch den trägen Druck eines eingeschla­fenen Kinobesuch­ers ertragen. Geschichte­n über zwischenme­nschliche Begegnunge­n verbergen sich in der Polsterung der Armlehnen. In frischer Zuneigung verschlung­ene Hände stützten sich darauf ab. Ebenso wie Ellbogen, die einen enttäuscht in die Hand gestützten Kopf in der Luft hielten.

Doch alte Kinosessel haben ihre Schattense­iten. Dazu gehören verschütte­te Cola, ranziges Popcorn und weitere unappetitl­iche Hinterlass­enschaften. Wer so etwas auf dem Sitz findet, lenkt sich besser mit dem laufenden Film von seiner Erkundungs­tour ab.

Kino aktuell

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