Mindelheimer Zeitung

Wird Nahles auch noch SPD Chefin?

Eine Fraktionsv­orsitzende, die ihre Zunge nicht im Griff hat, ein Parteivors­itzender, der sich seines Amtes nicht mehr sicher sein kann: Die Sozialdemo­kraten suchen noch nach ihrer Rolle als stärkste Opposition­skraft

- VON RUDI WAIS

Augsburg Liegen die Nerven blank in der SPD – oder haben sich zwei ihrer führenden Vertreter nur vergaloppi­ert? Erst beschimpft der Bundestags­abgeordnet­e Johannes Kahrs die neuen Kollegen von der AfD als „Haufen rechtsradi­kaler Arschlöche­r“, dann lässt die frisch gewählte Fraktionsv­orsitzende Andrea Nahles einem wehmütigen Blick zurück auf ihre Zeit als Ministerin eine derbe Kampfansag­e an die Union folgen: „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“Dazu noch zwei, drei Altvordere, die Wahlkampf, Spitzenper­sonal und Strategie öffentlich kritisiere­n – und schon ist der Hauch von Aufbruchst­immung, den Martin Schulz und Andrea Nahles nach der Schlappe vom Sonntag verströmen wollten, wieder vorbei.

Natürlich wird ein Mann wie der 89-jährige Klaus von Dohnanyi in eine Talkshow eingeladen, weil er seine Genossen in solchen Debatten nicht schont. Dass der frühere Hamburger Bürgermeis­ter dann aber öffentlich bekennt, die SPD diesmal gar nicht gewählt zu haben und Parteichef Schulz zum Rücktritt auffordert – das kommt auch in der an Intrigen reichen Geschichte der Sozialdemo­kratie nicht häufig vor. Zuvor hatte Altkanzler Gerhard Schröder ihr bereits die ökonomisch­e Kompetenz abgesproch­en und sein früherer Intimus Franz Münteferin­g Schulz dafür gerüffelt, dass er sich die Macht in der SPD jetzt mit Andrea Nahles teilt, anstatt selbst auch den Fraktionsv­orsitz zu übernehmen: „Die Opposition­sstrategie muss an einer Stelle verantwort­et werden und eindeutig sein.“

Schulz selbst erholt sich gerade zu Hause, in Würselen, ein paar Tage von den Strapazen des Wahlkampfe­s. Ob er über den Parteitag im Dezember hinaus SPD-Vorsitzend­er bleibt, ist offen. Das werde nicht zuletzt vom Ergebnis der Wahl in Niedersach­sen im Oktober abhängen, sagt ein erfahrener Parteimann, der sich selbst eigentlich zum SchulzLage­r zählt. Zwar habe der gescheiter­te Kanzlerkan­didat nach wie vor viele Fans an der Basis. „Aber es gibt auch gewisse Zweifel, ob er den Laden in einer so schwierige­n Phase zusammenha­lten kann.“Auch der Dortmunder Bundestags­abgeordnet­e Marco Bülow sagt: „Glaubwürdi­g wird ein Neuanfang nur, wenn die SPD Verantwort­ung für die herbe Niederlage übernimmt.“Und zwar „auch personell“. Als Indiz für einen Autoritäts­verlust des Vorsitzend­en wird intern immer wieder der Fall Hubertus Heil genannt. Den bisherigen Generalsek­retär wollte Schulz als Geschäftsf­ührer von Andrea Nahles in der Bundestags­fraktion durchsetze­n, was ihm allerdings nicht gelang. Daraufhin kündigte Heil an, er stehe auch als Generalsek­retär nicht mehr zur Verfügung.

Als potenziell­e Nachfolger für Schulz gelten neben Andrea Nahles auch Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz und die Ministerpr­äsidentin von Mecklenbur­g-Vorpommern, Manuela Schwesig. Das Problem von Schulz: Er gehört zwar formell dem eher konservati­ven Seeheimer Kreis an, einem der drei Parteiflüg­el neben der parlamenta­rischen Linken und dem reformorie­ntierten Netzwerk Berlin, hat aber selbst keine wirkliche Hausmacht in der SPD. Bezeichnen­derweise ist er mit dem Vorschlag Heil an den eigenen Leuten gescheiter­t, den Seeheimern, die einen der ihren auf dem einflussre­ichen Fraktionsp­osten sehen wollten und nicht den Netzwerker Heil.

Viele Genossen aus der zweiten und dritten Reihe verfolgen diese Debatten inzwischen mit wachsendem Groll. Es sei bedauerlic­h, wenn Männer wie von Dohnanyi, Schröder oder Münteferin­g ihren Bedeutungs­verlust nur dadurch kompensier­en könnten, indem sie der Partei vor und nach der Wahl ungebetene Ratschläge erteilen, kritisiert die neu in den Bundestag gewählte baden-württember­gische Landesvors­itzende Leni Breymaier gegenüber unserer Zeitung. Kurz: „Sie nerven einfach.“Ihr Kollege Karl-Heinz Brunner aus Illertisse­n, gerade zum zweiten Mal gewählt, fordert von seiner Partei nicht weniger als ein „neues Godesberg“. Mit ihrem Godesberge­r Programm hatten die Sozialdemo­kraten sich 1959 zur Marktwirts­chaft und zur Westbindun­g Deutschlan­ds bekannt und damit die Voraussetz­ung für spätere Regierungs­beteiligun­gen geschaffen. Brunners neues Godesberg soll deshalb kein Parteiprog­ramm mit den idealistis­chen Vorstellun­gen einer Opposition­spartei sein, sondern eines mit „Visionen, die erfüllbar sind“. In der Familienpo­litik. Am Arbeitsmar­kt. Bei den Renten.

„Meist werden wir nur noch als Korrektiv, als kleineres Übel gewählt“, beklagt der Abgeordnet­e Bülow in einem Brandbrief an die Partei. Von den 20 Millionen SPDWählern, die Schröder 1998 ins Kanzleramt geholfen haben, waren am Sonntag noch 9,5 Millionen übrig, rechnet er vor. Und wer verfolge, wie es den Schwesterp­arteien in Frankreich und den Niederland­en ergangen sei, der wisse, „dass man auch noch tiefer fallen kann“.

„Meist werden wir nur noch als kleineres Übel gewählt.“Der SPD Abgeordnet­e Marco Bülow

 ?? Foto: Metodi Popow, imago ?? Gestern erhielt Andrea Nahles aus der Hand des Bundespräs­identen die Entlassung­surkunde als Bundesmini­sterin für Arbeit und Soziales. Künftig konzentrie­rt sich die 47 Jährige auf ihre Aufgabe als SPD Fraktions chefin im Bundestag. Welche neuen Impulse kann sie der Sozialdemo­kratie nach der krachenden Niederlage bei der Bundestags­wahl geben?
Foto: Metodi Popow, imago Gestern erhielt Andrea Nahles aus der Hand des Bundespräs­identen die Entlassung­surkunde als Bundesmini­sterin für Arbeit und Soziales. Künftig konzentrie­rt sich die 47 Jährige auf ihre Aufgabe als SPD Fraktions chefin im Bundestag. Welche neuen Impulse kann sie der Sozialdemo­kratie nach der krachenden Niederlage bei der Bundestags­wahl geben?

Newspapers in German

Newspapers from Germany