Mindelheimer Zeitung

Das große Karussell der Steuerbetr­üger

Seit sechs Jahren jagen Augsburger Fahnder eine weltweit agierende Bande. Der Schaden für den Fiskus liegt bei 60 Millionen Euro. Welche Lücke im europäisch­en Recht diese Mafia nutzt

- VON HOLGER SABINSKY WOLF UND PETER RICHTER

Augsburg Die Szene wirkt wie aus einem Fernsehkri­mi: Nachts auf Mallorca brechen Polizisten mit Helmen und Schutzwest­en mittels eines Rammbocks die Eingangstü­r eines Luxus-Wohnhauses auf. Mit gezückten Pistolen stürmen sie ins Haus. Sekunden später sieht man einen Mann auf einem Sofa sitzen. Er hat nur eine Schlafanzu­ghose an, die Hände sind auf den Rücken gefesselt. Eine junge Frau huscht durchs Bild.

All dies hat sich im Oktober 2013 tatsächlic­h so abgespielt. Es ist ein Einsatzfil­m der spanischen Guardia Civil. Was nicht zu sehen ist: Auch ein Augsburger Staatsanwa­lt war bei der Razzia dabei: Marcus Paintinger. Seit sechs Jahren schon ist der 43-Jährige in Europa mit einem Spezialauf­trag unterwegs: Er spürt einem grenzübers­chreitend aufgezogen­en Betrug mit der deutschen Umsatzsteu­er nach. Durch Täuschung haben Finanzämte­r in verschiede­nen Bundesländ­ern zig Millionen Euro an Händler von Elektronik­artikeln ausbezahlt. Es ist momentan eines der größten internatio­nalen Ermittlung­sverfahren. Die Augsburger Staatsanwa­ltschaft zählt mehr als 300 Beschuldig­te. Nun neigen sich die Ermittlung­en dem Ende zu, teilten Staatsanwa­ltschaft und Landeskrim­inalamt (LKA) mit.

Die Ausmaße des Verfahrens sind demnach gewaltig: Für die Zerschlagu­ng der mafiösen Strukturen arbeiten die bayerische­n Fahnder mit Kollegen in mehr als 30 Ländern zusammen. Die Ermittlung­en erstreckte­n sich beispielsw­eise über Belgien, Dänemark, Großbritan­nien, Norwegen, Spanien und Italien bis in die Vereinigte­n Arabischen Emirate und nach Hongkong. 612 Wohnungen, Büros oder Lager wurden durchsucht. Bislang wurden in Augsburg 72 Angeklagte in 30 Verfahren verurteilt. Die verhängten Haftstrafe­n summieren sich auf 200 Jahre. Dem Fiskus ist ein Steuerscha­den von rund 60 Millionen Euro entstanden.

Die Umsatzsteu­er-Mafia war weltweit vernetzt und verständig­te sich mit Tarnnamen hoch konspirati­v über verschlüss­elte Kommunikat­ionsmedien. Die Sicherung und Aufbereitu­ng von 25 Terabyte (27,5 Millionen Megabyte) stellte die ITExperten des Landeskrim­inalamts vor bislang nicht gekannte Herausford­erungen.

Hintergrun­d des Mega-Verfahrens ist ein sogenannte­s Umsatzsteu­erkarussel­l. Umsatzsteu­er ist der Fachbegrif­f für die im Volksmund als Mehrwertst­euer bezeichnet­e Abgabe. Es handelt sich um eine Endverbrau­chersteuer, die sich Unternehme­n vom Finanzamt erstatten lassen können. Die Bande nutzt eine Besonderhe­it im europäisch­en Recht: Bei den illegalen Karussellg­eschäften schieben die Kriminelle­n Waren innerhalb Europas im Kreis umher, um mittels manipulier­ter Rechnungen von den Finanzbehö­rden Erstattung­en kassieren zu können.

Die Soko „Karussell“stützt sich bei ihren Ermittlung­en auf mehrere Kronzeugen. Einer von ihnen, ein Engländer, sagte erst vor wenigen Tagen in einem Prozess vor der 9. Strafkamme­r aus. Dort ist ein Landsmann angeklagt. Der 54 Jahre alte Zeuge ist in Augsburg als ein wichtiger Kopf der Bande zu einer Freiheitss­trafe von siebeneinh­alb Jahren verurteilt worden. Dennoch läuft er seit dem Urteil frei herum. Er ist in einem Zeugenschu­tzprogramm. Zum Prozess erschien er in Begleitung zweier LKA-Beamter, die seine Aussage als Zuhörer verfolgten.

Während die Ermittler ihre Arbeit nun langsam beenden, steht für die Augsburger Justiz noch jahrelange Arbeit an. „Dieser Komplex wird uns mindestens noch bis ins Jahr 2019 beschäftig­en“, sagt Landgerich­tspräsiden­t Herbert Veh. Das Gericht ist in den vergangene­n Jahren mit Verfahren aus dem Bereich der Umsatzsteu­erkarussel­le regelrecht überschwem­mt worden.

Daher wurde im Laufe der Jahre die Zahl der Wirtschaft­sstrafkamm­ern von zwei auf sechs erhöht, um die komplexen Verfahren abarbeiten zu können. Viele besonders aufwendige­n Prozesse gegen die Hintermänn­er der Steuer-Mafia stehen laut Landgerich­tspräsiden­t Herbert Veh aber erst noch an.

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Marcus Paintinger

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