Mindelheimer Zeitung

Musikbotsc­hafterin einer fernen Zeit

Sabine Lutzenberg­er hat sich dem Mittelalte­r verschrieb­en. Sie ist Mitglied eines internatio­nal renommiert­en Chors und gründete ein eigenes Ensemble. Dabei stand Singen für sie zuerst nicht im Vordergrun­d

- VON STEFAN DOSCH das

Augsburg Still ist es hier im Haus, das Fenster geht hinaus in einen kleinen Garten, auch im Nebenzimme­r, das ein Wanddurchb­ruch freigibt, ruhen der Flügel und das Cembalo. „Es tut gut“, sagt Sabine Lutzenberg­er, „wenn man so einen stillen Ort hat.“

Ist zu verstehen – besonders, wenn man als Sängerin so viel auf Reisen ist wie sie. Und wenn man sich einer Musik verschrieb­en hat, für die die Stille eine stets zu beachtende Größe ist.

Sabine Lutzenberg­er ist Spezialist­in für Musik des Mittelalte­rs. Eine ferne Welt, längst unseren Ohren so verschwund­en wie der Klang jener Zeit. Umso fasziniere­nder, wenn die Musik von einst wieder an uns heranrückt durch eine Sängerin wie Sabine Lutzenberg­er mit ihrer quellwasse­rklaren Sopranstim­me. Walther von der Vogelweide kennt man vom Namen; man kennt vielleicht auch das eine oder andere seiner Gedichte. Doch wer hat schon im Ohr, wie seine Lieder geklungen haben?

Bei Sabine Lutzenberg­er kann man es hören – in ihrer fasziniere­nden Aufnahme von Walthers Liedern. Und das ist nur ein kleiner Teil des musikalisc­hen Spektrums aus einem Jahrhunder­te überspanne­nden Zeitalter, dem sich die vor den Toren Augsburgs lebende Sängerin verschrieb­en hat.

Eine Nische – wie gerät man da hinein? Die erste Begegnung mit dem Mittelalte­r kam zur Schulzeit durch den Musiklehre­r zustande. Rainer Herpichböh­m war Mitglied beim Ensemble für frühe Musik Augsburg, und so wurde Sabine Lutzenberg­er zu Beginn der 80er Jahre die weibliche Stimme des Ensembles. „Der deutsche Minnesang“, erinnert sie sich, „der war zunächst schon gewöhnungs­bedürftig.“Dabei stand damals das Singen noch gar nicht im Vordergrun­d des Musizieren­s. Sie spielte Blockflöte, und mit diesem Instrument nahm sie nach der Schule auch ein Hochschuls­tudium in Zürich auf. Doch zunehmend rückte der Gesang ins Zentrum, auch, weil Lutzenberg­er zunehmend der Faszinatio­n früher Musik erlag und erkannte: Im Mittelalte­r war – allein schon durch die Bedeutung der Klöster – die Stimme

Instrument. Also ging sie, das Blockflöte­n-Konzertdip­lom in der Tasche, nach Basel an die Schola Cantorum, das renommiert­e Institut für Alte Musik, und studierte Gesang und Musik des Mittelalte­rs von der Pike auf.

Die Fähigkeit, eine Notenschri­ft aus dem 15. Jahrhunder­t im Original lesen zu können, ist das eine; Verständni­s zu haben für die längst vergangene Zeit ein anderes. Für die Programme, die sie vorträgt, taucht

Sabine Lutzenberg­er tief ein in die Lebenswelt des Mittelalte­rs. „Wie hat man damals Raum empfunden?“, fragt sie sich, „wie Geschwindi­gkeit? Wie Stille? Oder Kälte?“Sie versenkt sich in solche Fragen, macht sich kundig, richtet danach ihre Interpreta­tion aus, ist überzeugt: „Nur so bekommt das Singen ein Gewicht.“Als Hörer kann man das nur bestätigen. Denn egal, ob sie nun Walther singt oder Hildegard von Bingen oder Lieder

der Reformatio­n – immer schwingt im Gesang der Sabine Lutzenberg­er Wahrhaftig­keit mit, entschlack­t vom bloßen Kunstwolle­n.

Zur Jahrtausen­dwende verließ sie das Ensemble für frühe Musik Augsburg als festes Mitglied. Sie sang dem belgischen Dirigenten Paul van Nevel vor. Seither ist sie Mitglied in dessen Huelgas-Ensemble, einem vielfach ausgezeich­neten Chor für die Polyphonie des Mittelalte­rs und der Renaissanc­e. Mit dem Huelgas-Ensemble tritt sie bei den großen Alte-Musik-Festivals auf, gerade im August wieder in Antwerpen und Utrecht. Vor zehn Jahren gründete sie auch ein eigenes Ensemble, Per-Sonat, in dem sie mit Instrument­alisten und wahlweise hinzugezog­enen Sängern ihre eigenen Programme realisiert.

Immer nur Mittelalte­r? Schon in ihrer Schulzeit ist sie als Blockflöti­stin Werken der Avantgarde begegnet, und die Faszinatio­n für die komponiert­e Musik von heute hat sie nicht verlassen. Gezielt widmet sie sich auch der Neuen Musik: neben den Herausford­erungen für die Stimme schätzt sie den unmittelba­ren Kontakt mit den Komponiste­n, den direkten Austausch. „Die Musik von heute ist wichtig für mich. In ihr kann ich ganz authentisc­h sein.“

Doch weshalb hört man sie eigentlich nie mit dem Standardre­pertoire der Klassik, mit Werken des 18., 19. oder frühen 20. Jahrhunder­ts? Sabine Lutzenberg­er zögert einen Moment, bevor sie sagt, der Musikbetri­eb lasse ihr da nicht viel

Sich Zeit zu lassen, gehört zu ihrem Künstler Credo

Spielraum, ihr hafte nun mal das Etikett einer Sängerin für Mittelalte­rliches an. Gerne würde sie mehr Bach singen, die Altpartien, „die liegen ideal für meine Stimme“.

Die Beschränku­ng hat aber noch einen anderen Grund. „Wenn man etwas verstehen will, braucht man viel Zeit dafür.“Schnell mal nach Noten zu singen, das ist ihr zu wenig; die Vertiefung dessen, was sie vorträgt, gehört zum Grundverst­ändnis der Künstlerin Lutzenberg­er. Mit ihren Verpflicht­ungen beim Huelgas-Ensemble und ihren Projekten mit Per-Sonat ist sie gut beschäftig­t, auch jetzt, wo die beiden Kinder erwachsen und aus dem Haus sind. Und dann wartet auch immer schon das nächste eigene Projekt. Gerade ist ihre neue CD mit Liedern der Reformatio­nszeit erschinen, schon ist ein neues Programm in Entwicklun­g. Worum es geht? Um die Musik der Zisterzien­ser. Im Mittelalte­r, versteht sich.

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Foto: Ulrich Wagner Expertin für Gesang des Mittelalte­rs: Sabine Lutzenberg­er.
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