Mindelheimer Zeitung

Unten kommt etwas mehr an

Wer daheim pflegt, steht heute besser da als noch vor einem Jahr. Aber so mancher Betroffene hatte sich mehr von der Gesetzesän­derung erhofft

- VON JOHANN STOLL Foto: marcus_hofmann/Fotolia

Mindelheim Knapp drei Millionen Menschen in Deutschlan­d sind auf Pflege angewiesen. Rund die Hälfte von ihnen wird zuhause versorgt – mit zunehmende­r Tendenz. Die Zahl der Hilfsbedür­ftigen steigt weiter an, sagen Fachleute. Bereits Ende Juni gab es in Deutschlan­d rund 3,1 Millionen Pflegebedü­rftige. Im Jahr 2030 könnten es über 3,5 Millionen sein, vor allem, weil die Menschen immer älter werden und an Demenz erkranken. Vor diesem Hintergrun­d hat der Gesetzgebe­r in Berlin zum Jahreswech­sel das Pflegegese­tz reformiert. Was hat das gebracht? Wem wurde damit geholfen? Und gibt es womöglich auch Verlierer?

Wir sprachen mit Johannes Jähn, Fachteamle­iter der Pflegekass­e bei der AOK Memmingen, zu der neben der kreisfreie­n Stadt auch der Landkreis Unterallgä­u gehört. Die AOK ist mit Geschäftss­tellen in Mindelheim, Bad Wörishofen, Türkheim, Ottobeuren und Babenhause­n stark in der Region vertreten. Rund die Hälfte der Bevölkerun­g ist bei der AOK Bayern versichert, bayernweit sind es mittlerwei­le über 4,5 Millionen Versichert­e.

Jähn und seine Kollegen haben sehr anstrengen­de Monate hinter sich. Denn eines hat das geänderte Gesetz sofort nach sich gezogen: einen immensen Beratungsb­edarf für Pflegebedü­rftige und deren Angehörige. Aus zuvor drei Pflegestuf­en sind fünf Pflegegrad­e geworden. Neu ist vor allem, dass nicht nur die körperlich­en Einschränk­ungen, sondern auch geistige und psychische Erkrankung­en wie Alzheimer oder Demenz gleichbere­chtigt Einfluss auf die Einstufung der Pflegebedü­rftigkeit und die Bewilligun­g von Pflegeleis­tungen nehmen.

Positiv sei in jedem Fall, dass jetzt mehr Menschen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegekass­e haben, betont Jähn. Waren es im alten Jahr noch rund 2900 Pflegebedü­rftige, die Leistungen über die AOK Pflegekass­e Memmingen zugesproch­en bekommen haben, sind es nun rund 3230. Insgesamt dürfte die Zahl der Bedürftige­n von 5500 im Unterallgä­u mit Memmingen auf über 6000 gestiegen sein.

Kaum verändert hat sich allerdings die Zahl der Heimbewohn­er. Die liegt im Landkreis weiterhin bei rund 900. Die meisten Betroffene­n werden also zuhause versorgt. Das ist auch von der Politik so gewollt. Denn ein Heimplatz kommt um ein Vielfaches teurer als eine ambulante Versorgung in der vertrauten Umgebung.

Eines der Problemati­ken der Pflege ist die Absicherun­g der Pflegenden im Alter. Sie ist mit dem neuen Gesetz deutlich verbessert worden, sagt Jähn. Bisher galt: Rentenbeit­räge wurden erst gezahlt, wenn jemand mindestens 14 Stun- den pro Woche vor allem im Bereich der körperbezo­genen Pflege gepflegt hat. Jetzt gilt: Ab Pflegegrad 2 wird bereits ab zehn Stunden wöchentlic­hem Pflege- und Betreuungs­aufwand gezahlt, hierzu zählen zum Beispiel auch Hilfen zur Gestaltung des Alltags und sozialer Kontakte.

Weil überwiegen­d Frauen die Pflegelast tragen, können sie so ihre Anwartscha­ft auf Rente verbessern. Die Zahl der rentenvers­icherten Pflegenden hat sich im Landkreis Unterallgä­u und der Stadt Memmingen auf insgesamt 652 nahezu verdoppelt. „Vor allem, wer einen Angehörige­n länger pflegt, für den kann das eine spürbare Verbesseru­ng der Rente bedeuten“, sagt der Fachmann.

Im ersten halben Jahr seit der Gesetzesän­derung hatten die Mitarbeite­r der Pflegekass­en, aber auch des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenkas­sen MDK alle Hände voll zu tun. Die Zahl der Anträge war zeitweise um 31 Prozent gestiegen, sagt Jähn. Rund 84 Prozent davon wurden anerkannt, nach altem Begutachtu­ngsverfahr­en lag die Quote noch bei 75 Prozent. Bis zu sechs Wochen dauerte es noch im Mai, bis ein Fall bearbeitet war. Inzwischen ist die massive Antragsflu­t etwas abgeflacht, es geht also schneller.

Das alles kostet Geld, und das offenbar spürbar mehr, als die Politik erwartet hat. Die Beiträge für die Pflegekass­e waren um 0,2 Prozent erhöht worden. Kinderlose zahlen 2,8 Prozent vom Bruttolohn, Eltern 2,55. Das spült rund fünf Milliarden Euro mehr pro Jahr in die Kassen. Die Ausgaben sind aber deutlich stärker angestiege­n. Wurden im Vorjahr 2016 noch 29,7 Milliarden Euro deutschlan­dweit für die Pflege ausgegeben, waren es im ersten Halbjahr 2017 bereits 20,8 Milliarden Euro. Aufs Jahr hochgerech­net entspricht das einer Ausgabenst­eigerung von rund 25 Prozent.

Viele neue Leistungsb­ezieher kriegen aber nur ein bisschen etwas, sagt Jähn. „Die Erwartungs­haltung bei vielen war und ist hoch.“Anders gesagt: Politik und Medien hatten offenbar bei vielen den Eindruck erweckt, die Hilfe werde üppiger ausfallen als sie nun tatsächlic­h geleistet werden kann. Wer in den Pflegegrad 1 aufgenomme­n wird, „hat nur einen sehr eingeschrä­nkten Leistungsa­nspruch“, sagt Jähn. Da geht es unter anderem meist um Zuschüsse für bauliche Verbesseru­ngen daheim, etwa den altersgere­chten Umbau der Dusche, ein Anspruch auf Pflegegeld besteht beispielsw­eise nicht.

Beim Pflegegrad 2 sind es 316 Euro Pflegegeld, die gezahlt werden. Und es gibt sogar Betroffene, die nach neuem Recht heute schlechter stehen. Wer noch einen hohen Grad an Selbststän­digkeit besitzt, dennoch einen Heimplatz braucht und diesen in diesem Jahr einen Pflegegrad neu beantragt hat, muss mit einem etwas höheren Eigenantei­l rechnen, als es noch nach altem Recht der Fall war. Im Schnitt sind das rund 1500 Euro im Monat.

Aber es gibt auch viele Betroffene, die überhaupt noch keine Leistungen in Anspruch genommen haben. Es sei ratsam, dass Angehörige einen Pflegebera­ter kontaktier­en. Bei der AOK in Memmingen ist das Achim Kunz. Er berate neutral, versichert Jähn.

Und noch etwas hat sich nicht verbessert: Es fehlt nach wie vor an Pflegekräf­ten, unter anderem weil sie zu wenig verdienen. Und auch die begehrten Plätze für die Kurzzeitpf­lege sind nicht mehr geworden. Kein Wunder also, dass das Thema Pflege trotz der Verbesseru­ngen im Bundestags­wahlkampf eine gewisse Rolle gespielt hat.

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Mit dem neuen Pflegegese­tz hat sich einiges geändert. Mehr Menschen haben Anspruch auf Leistungen, doch nicht immer bekom men sie so viel finanziell­e Unterstütz­ung wie vielleicht erhofft.
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Johannes Jähn

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