Unten kommt etwas mehr an
Wer daheim pflegt, steht heute besser da als noch vor einem Jahr. Aber so mancher Betroffene hatte sich mehr von der Gesetzesänderung erhofft
Mindelheim Knapp drei Millionen Menschen in Deutschland sind auf Pflege angewiesen. Rund die Hälfte von ihnen wird zuhause versorgt – mit zunehmender Tendenz. Die Zahl der Hilfsbedürftigen steigt weiter an, sagen Fachleute. Bereits Ende Juni gab es in Deutschland rund 3,1 Millionen Pflegebedürftige. Im Jahr 2030 könnten es über 3,5 Millionen sein, vor allem, weil die Menschen immer älter werden und an Demenz erkranken. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber in Berlin zum Jahreswechsel das Pflegegesetz reformiert. Was hat das gebracht? Wem wurde damit geholfen? Und gibt es womöglich auch Verlierer?
Wir sprachen mit Johannes Jähn, Fachteamleiter der Pflegekasse bei der AOK Memmingen, zu der neben der kreisfreien Stadt auch der Landkreis Unterallgäu gehört. Die AOK ist mit Geschäftsstellen in Mindelheim, Bad Wörishofen, Türkheim, Ottobeuren und Babenhausen stark in der Region vertreten. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist bei der AOK Bayern versichert, bayernweit sind es mittlerweile über 4,5 Millionen Versicherte.
Jähn und seine Kollegen haben sehr anstrengende Monate hinter sich. Denn eines hat das geänderte Gesetz sofort nach sich gezogen: einen immensen Beratungsbedarf für Pflegebedürftige und deren Angehörige. Aus zuvor drei Pflegestufen sind fünf Pflegegrade geworden. Neu ist vor allem, dass nicht nur die körperlichen Einschränkungen, sondern auch geistige und psychische Erkrankungen wie Alzheimer oder Demenz gleichberechtigt Einfluss auf die Einstufung der Pflegebedürftigkeit und die Bewilligung von Pflegeleistungen nehmen.
Positiv sei in jedem Fall, dass jetzt mehr Menschen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegekasse haben, betont Jähn. Waren es im alten Jahr noch rund 2900 Pflegebedürftige, die Leistungen über die AOK Pflegekasse Memmingen zugesprochen bekommen haben, sind es nun rund 3230. Insgesamt dürfte die Zahl der Bedürftigen von 5500 im Unterallgäu mit Memmingen auf über 6000 gestiegen sein.
Kaum verändert hat sich allerdings die Zahl der Heimbewohner. Die liegt im Landkreis weiterhin bei rund 900. Die meisten Betroffenen werden also zuhause versorgt. Das ist auch von der Politik so gewollt. Denn ein Heimplatz kommt um ein Vielfaches teurer als eine ambulante Versorgung in der vertrauten Umgebung.
Eines der Problematiken der Pflege ist die Absicherung der Pflegenden im Alter. Sie ist mit dem neuen Gesetz deutlich verbessert worden, sagt Jähn. Bisher galt: Rentenbeiträge wurden erst gezahlt, wenn jemand mindestens 14 Stun- den pro Woche vor allem im Bereich der körperbezogenen Pflege gepflegt hat. Jetzt gilt: Ab Pflegegrad 2 wird bereits ab zehn Stunden wöchentlichem Pflege- und Betreuungsaufwand gezahlt, hierzu zählen zum Beispiel auch Hilfen zur Gestaltung des Alltags und sozialer Kontakte.
Weil überwiegend Frauen die Pflegelast tragen, können sie so ihre Anwartschaft auf Rente verbessern. Die Zahl der rentenversicherten Pflegenden hat sich im Landkreis Unterallgäu und der Stadt Memmingen auf insgesamt 652 nahezu verdoppelt. „Vor allem, wer einen Angehörigen länger pflegt, für den kann das eine spürbare Verbesserung der Rente bedeuten“, sagt der Fachmann.
Im ersten halben Jahr seit der Gesetzesänderung hatten die Mitarbeiter der Pflegekassen, aber auch des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen MDK alle Hände voll zu tun. Die Zahl der Anträge war zeitweise um 31 Prozent gestiegen, sagt Jähn. Rund 84 Prozent davon wurden anerkannt, nach altem Begutachtungsverfahren lag die Quote noch bei 75 Prozent. Bis zu sechs Wochen dauerte es noch im Mai, bis ein Fall bearbeitet war. Inzwischen ist die massive Antragsflut etwas abgeflacht, es geht also schneller.
Das alles kostet Geld, und das offenbar spürbar mehr, als die Politik erwartet hat. Die Beiträge für die Pflegekasse waren um 0,2 Prozent erhöht worden. Kinderlose zahlen 2,8 Prozent vom Bruttolohn, Eltern 2,55. Das spült rund fünf Milliarden Euro mehr pro Jahr in die Kassen. Die Ausgaben sind aber deutlich stärker angestiegen. Wurden im Vorjahr 2016 noch 29,7 Milliarden Euro deutschlandweit für die Pflege ausgegeben, waren es im ersten Halbjahr 2017 bereits 20,8 Milliarden Euro. Aufs Jahr hochgerechnet entspricht das einer Ausgabensteigerung von rund 25 Prozent.
Viele neue Leistungsbezieher kriegen aber nur ein bisschen etwas, sagt Jähn. „Die Erwartungshaltung bei vielen war und ist hoch.“Anders gesagt: Politik und Medien hatten offenbar bei vielen den Eindruck erweckt, die Hilfe werde üppiger ausfallen als sie nun tatsächlich geleistet werden kann. Wer in den Pflegegrad 1 aufgenommen wird, „hat nur einen sehr eingeschränkten Leistungsanspruch“, sagt Jähn. Da geht es unter anderem meist um Zuschüsse für bauliche Verbesserungen daheim, etwa den altersgerechten Umbau der Dusche, ein Anspruch auf Pflegegeld besteht beispielsweise nicht.
Beim Pflegegrad 2 sind es 316 Euro Pflegegeld, die gezahlt werden. Und es gibt sogar Betroffene, die nach neuem Recht heute schlechter stehen. Wer noch einen hohen Grad an Selbstständigkeit besitzt, dennoch einen Heimplatz braucht und diesen in diesem Jahr einen Pflegegrad neu beantragt hat, muss mit einem etwas höheren Eigenanteil rechnen, als es noch nach altem Recht der Fall war. Im Schnitt sind das rund 1500 Euro im Monat.
Aber es gibt auch viele Betroffene, die überhaupt noch keine Leistungen in Anspruch genommen haben. Es sei ratsam, dass Angehörige einen Pflegeberater kontaktieren. Bei der AOK in Memmingen ist das Achim Kunz. Er berate neutral, versichert Jähn.
Und noch etwas hat sich nicht verbessert: Es fehlt nach wie vor an Pflegekräften, unter anderem weil sie zu wenig verdienen. Und auch die begehrten Plätze für die Kurzzeitpflege sind nicht mehr geworden. Kein Wunder also, dass das Thema Pflege trotz der Verbesserungen im Bundestagswahlkampf eine gewisse Rolle gespielt hat.