Haiti richtet sich wieder auf
Da war 2010 das verheerende Erdbeben. Und dann Hurrikan Matthew, der vor einem Jahr den Karibikstaat erschütterte. Manche Menschen haben alles verloren. Mittlerweile haben sie gelernt, wie sie ihr Hab und Gut sichern können – theoretisch
Petit Goâve Als Irma Kurs auf Haiti nahm, zog Fabien Legype sich mit seiner sechs Monate alten Tochter und seiner Frau in seine aus Holz, Lehm und Blech zusammengezimmerte Hütte zurück – und betete. Hier hatte er vor einem Jahr mit seiner Frau, die damals noch schwanger war, Hurrikan Matthew überlebt, hier wollte er mit seiner Familie auch vor dem nächsten, drohenden Wirbelsturm Schutz suchen.
Im Radio und im Fernsehen hatten die haitianischen Behörden Fabien Legype und all diejenigen, die nicht in festen Häusern leben, zuvor aufgefordert, sich in sichere Gebäude wie Schulen zu begeben und den Sturm dort abzuwarten. Fabien hat weder Radio noch Fernseher, von den Sicherheitsvorkehrungen hatte er jedoch von Freunden gehört. Einen Schutzraum wollte er mit seiner Familie dennoch nicht aufsuchen. „Wir haben doch fast nichts! Und ich hatte Angst, dass Plünderer uns auch noch das letzte bisschen wegnehmen, wenn wir unsere Hütte alleine lassen“, erzählt Legype. Darum ist er zu Hause geblieben.
Der 28-Jährige hat aus den jüngsten Naturkatastrophen gelernt. Aus dem Jahrhundert-Erdbeben, das im Januar 2010 seine Heimat verwüstete und 220 000 Menschen das Leben kostete. Und aus Hurrikan Matthew, der am 4. Oktober 2016 über Haiti hinweggezogen war. Danach waren über 1000 Menschen tot, 2,1 Millionen wurden obdachlos. Vor allem im Süden des Karibikstaates wurden Felder, Ernten und Häuser zerstört. Auch Fabien Legype musste Freunde begraben.
Wäre auch Irma – wie Experten zunächst befürchtet hatten – direkt über Haiti hinweggezogen, wären Fabien und seine Familie diesmal vielleicht selbst unter den Todesopfern gewesen. Denn schon Matthew hatte die Hütte der Familie schwer beschädigt – und Irma war noch kräftiger. In Fabiens Heimatstadt Petit Goâve im Südwesten Haitis trotzen fast nur solide Steinhäuser den Hurrikans. Einige dieser Häuser waren aus Steinen gebaut, die Fabien Legype selbst hergestellt hatte.
„Diese Steine können Leben retten. Allerdings nicht meins. Dafür bin ich zu arm“, sagt der Tagelöhner. Der Schweiß läuft ihm in Strömen über den muskulösen Körper, als er Sand und Zement mischt, um daraus Ziegel herzustellen. „Die Steine sind wirklich gut. Aber sie sind auch teuer“, sagt der ungelernte Arbeiter. Ein Ziegel kostet umgerechnet rund 45 Cent. Wie viele Steine man benötigt, um ein Haus zu bauen, das kann der 28-Jährige nicht sagen. Aber er weiß, dass es mehr sind, als er sich von umgerechnet 65 Euro, die er durchschnittlich im Monat verdient, leisten kann.
für Micheline Cetoute wären die Ziegel unerschwinglich. Dennoch wohnt die arbeitslose Frau mit ihren drei erwachsenen Kindern und ihrem Mann in einem winzigen Häuschen, das aus Ziegeln erbaut wurde, die Fabien Legype und seine Kollegen hergestellt haben. Statiker haben berechnet, dass es Wirbelstürmen wie Matthew standhalten soll – und theoretisch sogar einem heftigen Erdbeben wie dem Januar 2010. Micheline Cetoute erinnert sich noch genau an den Tag, der vor sieben Jahren hunderttausenden Haitianern den Tod brachte. „Ich war gerade auf dem Markt, als vor mir plötzlich die Kirche in sich zusammenbrach. Ich bin sofort nach Hause gerannt, um nach meinem Mann und meinen Kindern zu schauen. Überall lagen Tote, überall schrien Verletzte.“
Damals lebte Cetoute mit ihrer Familie noch in einer windschiefen Hütte. Als die Erde nach 37 Sekunden aufhörte zu beben, war davon nur noch ein Haufen Schutt übrig. „Meine Kinder, mein Mann und ich hatten überlebt, aber außer unseren Leben hatten wir alles verloren“, berichtet Cetoute. Drei Monate schlief sie mit ihrer Familie nur unter einer Plane, dann fünf Jahre in einer provisorischen Notunterkunft. Schließlich baute die Welthungerhilfe für Cetoute und 161 weitere Familien aus Petit Goâve, die beim Erdbeben alles verloren hatten, einfache, aber solide Steinhäuser.
„Ich habe mit meiner Familie selbst das Fundament ausgehoben und war jeden Tag auf der Baustelle. Ich habe gesehen, dass bei unserem Haus viel mehr Eisen und Zement verbaut worden ist als bei den meisten anderen Häusern“, erzählt Micheline Cetoute. Auf gerade einmal 24 Quadratmetern lebt sie jetzt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann. „Es ist zwar eng, aber dafür leben und schlafen wir hier, ohne uns zu fürchten“, sagt Micheline Cetoute. Wie vor einem Jahr, als Hurrikan Matthew die Häuser der Nachbarn zerstörte, die ebenfalls erst nach dem Erdbeben gebaut worden waren. „Bei uns hat nichts gewackelt“, sagt die Frau.
Die meisten Haitianer aber leben auch ein Jahr nach dem Wirbelsturm und sieben Jahre nach dem Erdbeben in Angst. „Oft wurden die Häuser nur sehr notdürftig repariert oder in schlechter Qualität neu gebaut“, sagt ein Architekt, der in den letzten Jahren für verschiedene Hilfsorganisationen in Haiti gearbeitet hat, seinen Namen jedoch nicht in der Zeitung lesen will. Einem erneuten Beben oder einem starken Hurrikan würden viele nicht standhalten, ist er überzeugt. „Vor allem für die Ärmsten kann eine Naturkatastrophe so leicht wieder zu einer humanitären Katastrophe werden.“
Im Fall von Irma ist Haiti noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. In der Karibik war der Sturm – gemessen an der SchaAuch denssumme – der schlimmste aller Zeiten, doch Haiti verschonte er weitestgehend. Im Norden und Nordosten des Landes gab es nach Aussage der Hilfsorganisation Care einige Überschwemmungen, umgefallene Bäume und zerstörte Felder. Doch die Folgen hätten weitaus dramatischer sein können, gibt Martin van de Locht, Leiter der Internationalen Programme von World Vision, zu bedenken. „Hätte Irma einen südlicheren Weg eingeschlagen, wäre es zur Katastrophe gekommen.“Schließlich leben noch immer viele Menschen in provisorischen Unterkünften.
Auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen liegt Haiti auf Rang 163 von 188, im Welthungerindex ist es der 115. von 118 Plätzen. Ohne internationale Hilfe wären nach den Naturkatastrophen der vergangenen Jahre noch viel mehr Menschen gestorben. Doch beim Wiederaufbau wurden Fehler gemacht – auch von den ausländischen Helfern. „Das Erdbeben war eine Katastrophe. Die Reaktion auf das Beben war die nächste Katastrophe. Der Staat war völlig unvorbereitet und handlungsunfähig“, sagt Gabriel Frederic, Programm-Koordinator der Welthungerhilfe in Haiti. Überstürzt ins Land strömende Hilfsorganisationen füllten das Vakuum, das der Staat hinterlassen hatte, und arbeiteten völlig unkoordiniert nebeneinander her.
Mittlerweile ist Haiti etwas besser auf die immer wieder auftretenden Katastrophen wie Wirbelstürme und Überschwemmungen vorbereitet. So warnen unter anderem neu geschaffene Katastrophenschutzkomitees die Bevölkerung bei drohender Gefahr, doch noch immer gibt es viel zu wenig sichere Zufluchtsorte. „Die Zivilgesellschaft muss von der Regierung endlich einfordern, dass sie mehr zum Schutz der eigenen Bevölkerung tut“, kritisiert Gabriel Frederic.
Doch in einem Land, in dem ständig politischer Ausnahmezustand herrscht, Korruption allgegenwärtig ist und Politiker sich auf Kosten der bettelarmen Bevölkerung bereichern, wird viel versprochen und wenig gehalten. „Nach dem Erdbeben und nach Matthew sind hier ein paar Leute von der Regierung aufgetaucht. Sie haben schöne Reden geschwungen, aber danach ist nichts passiert“, sagt Fabien Legype, während er eine Arbeitspause an der Steinpresse macht. „Von Politikern erwarte ich seitdem gar nichts mehr.“Stattdessen verlässt sich der Tagelöhner lieber auf seinen Gott. „Das Beben und die Stürme waren Gottes Strafe. Denn in unserem Land wird so viel gestohlen und getötet“, sagt er. Und er ist überzeugt, dass die Gebete der Haitianer erhört wurden. „Sonst wäre Irma nicht an uns vorbeigezogen.“
Auch Fabien Legype musste Freunde begraben
„Bei uns hat nichts gewackelt“, sagt Micheline Cetoute