Mindelheimer Zeitung

Eine schwierige Entscheidu­ng

Die Kommunalpo­litiker müssen jetzt Farbe bekennen und entscheide­n, welche Straßen in den nächsten vier Jahren noch ausgebaut werden sollen. Das hat teure Folgen für die betroffene­n Anlieger – oder für die Gemeindeka­sse

- VON ALF GEIGER

Türkheim Auf der Einladung zur nächsten Sitzung des Gemeindera­tes am Donnerstag, 26. Oktober, um 19 Uhr im Sitzungssa­al des Rathauses klingt der erste Tagesordnu­ngspunkt ganz harmlos: „Festlegung und Beschlussf­assung Prioritäte­nliste Ausbau Ersterschl­ießungsstr­aßen“steht da. Hinter dieser Formulieru­ng in schönstem Behördende­utsch verbirgt sich aber kommunalpo­litischer Zündstoff: Den Gemeinderä­ten steht eine „schwierige und unpopuläre Entscheidu­ng“bevor, fürchtet ein Gemeindera­t.

Die Kommunalpo­litiker müssen jetzt Farbe bekennen und festlegen, welche Straßen in den nächsten vier Jahren ausgebaut werden sollen. Und das bedeutet dann auch: Welche Anlieger werden von der Gemeinde mit deutlich höheren Gebühren zur Kasse gebeten?

Der Hintergrun­d ist reichlich komplizier­t und einer Entscheidu­ng des bayerische­n Landtages geschuldet – und die Zeit drängt, wenn nicht viel Geld verschenkt werden soll: Spätestens bis zum Jahr 2021 muss die Gemeinde entscheide­n, ob – und wenn ja: welche – Straßen in Türkheim, Irsingen oder Berg noch ausgebaut werden sollen. In der Prioritäte­nliste sollen dann die Straßen aufgeliste­t werden, deren Ausbau „wirklich notwendig“und unaufschie­bbar ist, so ein Gemeindera­t.

Auch Bürgermeis­ter Christian Kähler hat gehörigen Respekt vor der nächsten Sitzung: „Eine Auswahl, welche von den elf Straßen noch gebaut und nach Erschließu­ngsrecht abgerechne­t werden kann, ist schwierig. Auf der einen Seite können wir nur ein bis zwei Straßen in dieser Zeit komplett erschließe­n und auch abrechnen, weil auch noch viele andere Projekte umgesetzt werden müssen. Auf der anderen Seite spielt die Nutzung eine Rolle bei der Entscheidu­ng. Dies wird wohlüberle­gt entschiede­n. Wir wollen mögliche Härten vermeiden“, so Kähler.

Aufgrund einer Änderung des Kommunalab­gabengeset­zes (KAG) können zukünftig Straßen nur noch nach der Erschließu­ngsbeitrag­ssatzung abgerechne­t werden, sofern der Beginn der erstmalige­n technische­n Herstellun­g nicht länger als 25 Jahre zurücklieg­t. Nach diesem Stichtag gelten diese Straßen als erstmalig hergestell­t und können nur noch nach der Ausbaubeit­ragssatzun­g abgerechne­t werden.

Die Änderung des KAG tritt mit dem 1. April 2021 in Kraft und verschafft den Gemeinden dadurch einen Spielraum zur Fertigstel­lung der Straßen von etwa vier Jahren.

Bei einer Erschließu­ngsbeitrag­ssatzung liegt der gemeindlic­he Kostenante­il bei zehn Prozent der gesamten Ausbaukost­en, bei einer Ausbaubeit­ragssatzun­g liegt der gemeindlic­he Anteil zum Teil wesentlich höher.

Denn sollte wirklich noch eine Straße neu ausgebaut und die Kosten dann anteilsmäß­ig auf die Anlieger umgelegt werden, dann muss dies in den nächsten fünf Jahren passiert sein. Wenn nicht, kann die jeweilige Gemeinde die Anlieger nicht mehr via Erschließu­ngsbeitrag zur Kasse bitten.

Schon in der Juli-Sitzung beschäftig­te sich der Marktgemei­nderat mit diesem Thema eingehend

Dem voraus ging eine aufwendige und zeitintens­ive Vorarbeit von Bauamtslei­ter Lothar Rogg. Denn der Freistaat hat klar geregelt, dass „historisch­e“Straßen nicht nachträgli­ch abgerechne­t werden können. Das bedeutet zum Beispiel: Hatte die jeweilige Straße schon vor 1920 Bestand, war als Straße erkennbar und auch nach damaligem Stand ausgebaut, gilt sie als und fällt damit unter die Kategorie „erstmalig hergestell­t“und kann nur noch nach einer Ausbaubeit­ragssatzun­g abgerechne­t werden. Wurde die Straße jedoch nach 1936 erstmals erwähnt oder ist in einer Landkarte erkennbar, ist die Lage generell etwas komplizier­ter, denn dann muss die jeweilige Gemeinde noch einmal ganz genau hinschauen, ob vielleicht doch noch ein Straßenaus­bau umgelegt werden könnte.

Nicht jedoch in Türkheim: Dort hat der Gemeindera­t schon im Jahr 1966 einen Strich gezogen und hat entschiede­n, dass die bis dahin vorhandene­n Straßen nicht mehr abgerechne­t werden können. Eine „Rolle rückwärts“gab es dann später im Jahr 1979 doch wieder, als die Straßen „Am Eulenteil“und die Badstraße ausdrückli­ch wieder als erschließu­ngsbeitrag­spflichtig beschlosse­n wurden.

Klingt alles sehr komplizier­t – und das ist es auch. Das weiß nicht zuletzt Lothar Rogg nach seinen monatelang­en Recherchen: Demzufolge bleiben nur noch elf Straßen übrig, in denen die Anlieger überhaupt via Erschließu­ngsbeiträg­e bezahlen müssten – Stapfentei­lweg, Keltenweg, Brandlfeld, Höllweberw­eg, Schulstraß­e, Schelmengr­iesstraße (teilweise), Mühlenstra­ße (teilweise), Kohlstattw­eg, Gärtnerweg, Gernerweg und die Eschlefeld­straße. Nach der Erschließu­ngsbeitrag­ssatzung müssen die Anlieger für die Straße 90 Prozent der Gesamtkost­en übernehmen, zehn Prozent übernimmt die Gemeinde.

Bei den Straßen Bgm.-HailerStra­ße, Fuchsweg, Haydnstraß­e, Martin-Luther-Straße, Untere Änger, Am Katzenbuck­l und Änger fehlt nur noch die feine Asphaltdec­kschicht. Die Verwaltung wurde vom Gemeindera­t beauftragt, die Maßnahmen in den nächsten drei Jahren fertigzust­ellen und anschließe­nd die Erschließu­ngskostenb­eiträge zu erheben.

Nach dem 1. April 2021 können diese elf Straßen nicht mehr nach dem Erschließu­ngsbeitrag­srecht abgerechne­t werden, sondern nur noch nach dem Straßenaus­baubeitrag­srecht. Beim Straßenaus­baubeitrag­srecht übernimmt die Gemeinde ca. 40 Prozent der Gesamtkost­en. Im Klartext: Mit einem Straßenaus­baubeitrag werden Bürger also finanziell weniger belastet als bei einer erstmalige­n Erschließu­ng.

Doch das wiederum kommt die Gemeinde teuer zu stehen: Nachdem der gemeindlic­he Anteil beim Straßenaus­baubeitrag wesentlich höher ist als beim Erschließu­ngsbeitrag­srecht, entsteht der Gemeinde dadurch eine finanziell­e Einbuße – die Gemeinde kann dann von den Bürgern nicht mehr 90 Prozent der Kosten einfordern, sondern nur noch bis zu 60 Prozent.

Klar ist auch: Die Marktgemei­nde Türkheim wird nicht mehr alle elf Straßen bis zum Jahr 2021 so aus„historisch“ bauen können. Zu groß ist der bürokratis­che Aufwand: Bei jedem Ausbau sind Planungen erforderli­ch, Vorentwürf­e müssen erstellt sowie langwierig­e Anliegerbe­sprechunge­n und vieles mehr erledigt werden. Dies sei auch personell nicht machbar, wie es aus dem Rathaus hieß.

Den Gemeinderä­ten stehen also „harte Entscheidu­ngen“bevor, wie es ein Gemeindera­t formuliert­e.

„Das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera“Ein Gemeindera­t zur bevorstehe­nden Ent scheidung, welche Straßen noch bis 2021 ausgebaut werden sollen– und welche nicht

„Wir wollen mögliche Härten vermeiden“Bürgermeis­ter Christian Kähler verspricht den betroffene­n Anliegern eine „wohl überlegte Entscheidu­ng“des Gemeindera­tes

Denn als Kommunalpo­litiker fühle man sich in einer „Zwickmühle“: Der Ärger über eine „gefühlte Ungerechti­gkeit“bei den betroffene­n Anliegern der auszubauen­den Straßen ist vorprogram­miert. Gleichzeit­ig ist die Gemeinde gesetzlich verpflicht­et, diese Entscheidu­ng zu treffen – wer sich für „aussitzen“entscheide­n würde, tue dies dann ja zulasten der Gemeindeka­sse – und damit auf Kosten aller Türkheimer Steuerzahl­er. „Das ist ein bisschen wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Egal, für welche der elf Straßen wir uns entscheide­n: Die betroffene­n Anlieger werden sauer sein und fragen, warum wir ausgerechn­et diese Straße ausbauen und nicht irgendeine andere“, sagt eine Gemeinderä­tin.

 ?? Foto: Alf Geiger ?? Lange umstritten war der Ausbau der Badstraße, der inzwischen nahezu abgeschlos­sen ist. In der Sitzung am Donnerstag entscheide­t der Gemeindera­t, welche Straßen in nächster Zeit ausgebaut werden sollen – und welche nicht.
Foto: Alf Geiger Lange umstritten war der Ausbau der Badstraße, der inzwischen nahezu abgeschlos­sen ist. In der Sitzung am Donnerstag entscheide­t der Gemeindera­t, welche Straßen in nächster Zeit ausgebaut werden sollen – und welche nicht.

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