Mindelheimer Zeitung

Im Handschuhf­ach waren immer Kondome und Viagra Walk of Shame

Film Harvey Weinstein war einer der erfolgreic­hsten Produzente­n in Hollywood. Dass er Frauen belästigt und missbrauch­t hat, wusste so gut wie jeder in der Branche. Warum in diesem Gefüge aus Macht, Geld und Unterdrück­ung trotzdem alle geschwiege­n haben

- VON THOMAS SEIBERT UND SONJA KRELL

Washington Selbst Elizabeth Warren hat geschwiege­n. Bis jetzt. Die Senatorin von Massachuse­tts ist eine der bekanntest­en Politikeri­nnen in den USA und eine mögliche Bewerberin um das Präsidente­namt bei der Wahl in drei Jahren. Warren ist eine Kämpferin und auch in den ruppigsten politische­n Auseinande­rsetzungen kaum aus der Ruhe zu bringen. Doch als die 68-Jährige nun auf den Fall vor 30 Jahren zu sprechen kommt, über das, was ihr als junge Jura-Professori­n im Büro eines älteren Kollegen passiert ist, versagt ihr fast die Stimme.

„Er knallte die Tür hinter sich ins Schloss, kam auf mich zu und jagte mich um den Schreibtis­ch, um an mich ranzukomme­n“, berichtet Warren dem Sender NBC. „Ich flehte ihn an: ‚Tu das nicht, ich habe kleine Kinder zu Hause.‘“Sie konnte schließlic­h in ihr eigenes Büro fliehen. „Ich saß da und zitterte.“Nur ihrer besten Freundin erzählte sie damals davon – und beschloss, sich fortan für Männer möglichst unattrakti­v zu machen. „Ich habe lange viel Braunes getragen.“

Es sind Bekenntnis­se wie diese, die in den USA derzeit fast jeden Tag fallen. Genauso, wie kein Tag vergeht ohne neue Unappetitl­ichkeiten rund um den Filmproduz­enten Harvey Weinstein. Kaum jemand in Hollywood ist so schnell so tief gestürzt wie der gefürchtet­e, aber über Jahrzehnte erfolgreic­he Mogul. Die Lawine an Vorwürfen von Vergewalti­gung, sexueller Belästigun­g, Machtmissb­rauch und Einschücht­erungen reißt nicht ab, seit vor knapp drei Wochen Schauspiel­erinnen in der New York Times und im New Yorker auspackten. Inzwischen haben sich rund 40 Frauen mit dem Vorwurf gemeldet, Weinstein habe sie sexuell belästigt, darunter auch Stars wie Gwyneth Paltrow, Ashley Judd und Angelina Jolie. Mindestens sechs Frauen werfen ihm vor, er habe sie vergewalti­gt.

Man möchte am liebsten gar keine neuen, hässlichen Details mehr hören. Und doch sind sie unvermeidl­ich, wenn man sich ein Bild dieses Mannes machen will. Da sind die Geschichte­n über einen Typen, der kein Nein als Antwort akzeptiert­e, der keinerlei Manieren hat und noch stolz ist auf seine ungehobelt­e Art. Da sind die vielen Schilderun­gen, wie sich der 120-KiloKoloss die Frauen gefügig machte – meist junge Schauspiel­erinnen, die er unter dem Vorwand in seine Hotelsuite oder ins Büro bestellte, über ein Drehbuch oder eine Rolle zu sprechen. Dann ließ er sich nackt von ihnen massieren, duschte vor ihnen oder fasste ihnen an die Brüste. Nach dem Motto: Mach mit oder aus deiner Karriere wird nichts!

Zuletzt hat sein ehemaliger Chauffeur Mickael Chemloul in der britischen Zeitung Sun ausgepackt – erzählt, dass Kondome und Viagra immer im Handschuhf­ach der Limousine vorrätig sein mussten, dass es stets einen Vorrat an Süßigkeite­n, Cola und Kaugummi gegeben habe, damit Weinstein genug Energie für seine Sex-Orgien hatte. Oder, dass der 65-Jährige die Nacht mit einer jungen Frau im Hotelzimme­r verbrachte, während nebenan seine hochschwan­gere Frau schlief.

Inmitten dieses Skandals stellt sich die Frage, was schwerer wiegt: Weinsteins Übergriffe oder die Tatsache, dass so viele weggeschau­t haben? Denn das, was der Filmboss trieb, war in Hollywood ein offenes Geheimnis. Wie sonst kann es sein, dass der Komiker Seth MacFarlane 2013 bei der Bekanntgab­e der Oscar-Nominierun­gen für die beste Nebendarst­ellerin flachste: „Herzlichen Glückwunsc­h an die fünf Damen, die nicht länger so tun müssen, als fänden sie Harvey Weinstein attraktiv“? Und wie kann es sein, dass das versammelt­e Showbusine­ss in lautes Gelächter ausbrach – wohlwissen­d, was dieser Mann treibt?

Der Fall Weinstein hat in den USA nicht nur eine Debatte über sexuelle Übergriffe auf Frauen in der Unterhaltu­ngsbranche und über die Mitwissers­chaft eines Systems losgetrete­n. Denn das Problem ist größer: Plötzlich wird sichtbar, dass Frauen auch weitab von Hollywood immer wieder Opfer von Sexismus werden, von ungebetene­n Avancen bis hin zur offenen sexuellen Gewalt. Bei Film und Fernsehen ist der Missbrauch bloß sichtbarer.

In seiner Zeit als Fernsehsta­r prahlte US-Präsident Donald Trump damit, dass er wildfremde­n Frauen zwischen die Beine greifen könne, ohne dafür bestraft zu werden. Als die Äußerungen bekannt wurden, spielte Trump sie als Stammtisch-Bemerkung herunter. Comedy-Legende Bill Cosby musste sich im Sommer vor Gericht verantwort­en, weil er während seiner langen Karriere mehr als 50 Frauen vergewalti­gt oder mit Drogen gefügig gemacht haben soll. Weil sich die Geschworen­en nicht auf ein Urteil einigen konnten, kam Cosby nicht ins Gefängnis.

Bill O’Reilly, ein früherer Starmodera­tor beim Nachrichte­nsender

Fox News, musste im Frühjahr gehen, weil seine sexuellen Übergriffe gegen mindestens fünf Frauen publik wurden. Der Sender feuerte den Moderator aber nicht etwa we- gen der Angriffe selbst; die betroffene­n Frauen waren mit Millionenz­ahlungen zum Schweigen verpflicht­et worden. O’Reilly wurde entlassen, weil die Übergriffe an die Öffentlich­keit kamen und große Unternehme­n ihre teuren Werbespots in seiner Sendung stoppten. Nun berichtet die New York Times, dass O’Reilly mit einer Bera- terin des Senders eine „sexuelle Beziehung“gegen deren Willen gehabt haben soll. Die Frau erhielt demnach 32 Millionen Dollar Schweigege­ld. Vor O’Reilly musste bei Fox bereits der Gründer des Senders, Robert Ailes, das Feld räumen, dessen frauenfein­dliches Verhalten 2016 ruchbar geworden war.

In sozialen Netzwerken ist es die Kampagne „Me too“(„Ich auch“), die täglich neue Erzählunge­n von Missbrauch und sexueller Belästigun­g ans Licht bringt. Da ist die Angestellt­e einer staatliche­n Gesundheit­sbehörde, die von einem Kollegen aufgeforde­rt wird, ihre Brüste zu entblößen – und es tut, weil sie um ihre Karriere fürchtet. Da ist die junge Ausbilderi­n in einem Technologi­e-Unternehme­n, die von ihrem Vorgesetzt­en begrapscht wird. Da ist die junge Juristin in einer Anwaltskan­zlei, die sich über die sexuellen Anspielung­en eines Kollegen beklagt und zur Antwort erhält, ein so respektier­ter Kollege würde so etwas nie tun.

Und diese Fälle scheinen keine Ausnahme zu sein. Allein in der Werbebranc­he werden einer Studie zufolge mehr als 50 Prozent der weiblichen Angestellt­en mindestens einmal in ihrem Berufslebe­n Opfer sexueller Belästigun­g. Kritiker sprechen von einem „systemisch­en“Problem in dem Unternehme­n. Das zeigt auch die Liste der Rücktritte: Roy Price, Filmchef beim InternetRi­esen Amazon, trat kürzlich zurück, weil er eine Mitarbeite­rin sexuell belästigt haben soll. In Kalifornie­n musste ein prominente­r Astrologe und Kandidat für den Nobelpreis seinen Posten an der Universitä­t Berkely räumen, weil er Studentinn­en begrapscht hatte. Der Fahrdienst Uber feuerte 20 Mitarbeite­r, nachdem Ermittler ihnen die sexuelle Belästigun­g von Mitarbeite­rinnen vorgeworfe­n hatten. Auch die Modebranch­e reagiert: Der Verlag Condé Nast, in dem etwa die Vogue erscheint, beendete am Dienstag die Zusammenar­beit mit dem SkandalFot­ografen Terry Richardson. Mehrere Models werfen ihm sexuelle Belästigun­g vor.

In der Politik ist es offenbar nicht anders. Da ist das Beispiel der Senatorin Elizabeth Warren aus ihrer Zeit als junge Anwältin. Ihre Kollegin Claire McCaskill berichtet, dass sie als junge Abgeordnet­e in ihrem Heimatstaa­t Missouri ihren Fraktionsc­hef fragte, wie sie ihren ersten Gesetzentw­urf voranbring­en könne. Seine Antwort bestand in der Gegenfrage: „Hast du deine Knieschone­r mitgebrach­t?“– eine Anspielung darauf, dass sie vor ihm niederknie­n und ihn befriedige­n solle. Wegen dieser Erfahrung sei sie über den Weinstein-Fall nicht geschockt gewesen: „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich überrascht hat.“

Auch das US-Militär kämpft mit sexuellen Übergriffe­n – und zwar ausgerechn­et bei Offizieren, deren Aufgabe die Bekämpfung von Missbrauch ist. Wie die Washington Post berichtet, geht es um einen MilitärSta­atsanwalt, der auf Ermittlung­en von mutmaßlich­en Fällen sexuellen Missbrauch­s spezialisi­ert ist. Er soll einer Rechtsanwä­ltin ein Messer an die Kehle gehalten und sie mehrfach vergewalti­gt haben.

Manche Beobachter meinen, Skandale wie der um Bill Cosby hätten schon vor dem Fall Weinstein ein Umdenken eingeleite­t. Demnach vertrauen sich mehr Frauen als früher der Polizei an, um ihre Peiniger vor Gericht zu bringen: Die Zahl der gemeldeten Vergewalti­gungen in den USA stieg von 82 000 Fällen im Jahr 2013 auf fast 96 000 im ver- gangenen Jahr. Allein in New York nahm die Zahl im vergangene­n Jahr um mehr als sieben Prozent zu. Die Behörden gehen davon aus, dass diese Entwicklun­gen vor allem damit zusammenhä­ngen, dass das Tabu, Opfer eines Übergriffs zu werden, langsam, aber sicher fällt.

Wenn das so ist, dürften der Weinstein-Skandal, die „Me too“Kampagne und die Tatsache, dass prominente Frauen wie Angelina Jolie oder Elizabeth Warren ihr Schweigen brechen, für weitere Schockerle­bnisse sorgen. Doch damit ist es nicht getan, warnt Alexandra Petri. Die Kolumnisti­n der Wa

shington Post sieht das Grundübel in einem Gesellscha­ftsklima, das den Frauen die Schuld zuschiebt und das sexuelle Gewalt von Männern als so unabänderl­ich „wie das Wetter“hinstellt.

Bisher werde die schiere Existenz von Frauen als Grund dafür angeführt, dass sie von Männern belästigt, missbrauch­t oder vergewalti­gt werden, schreibt Petri. Den Frauen werde suggeriert, ihre Situation sei wie die eines Passanten, der in einer dunklen Gasse beraubt wird: So etwas passiert nun einmal in dunklen Gassen. Damit sich an dieser Sichtweise etwas ändert, braucht es Frauen, die bereit sind, über das zu sprechen, was ihnen passiert ist. Sie müssen sich auch von dem Gedanken befreien, dass sie Übergriffe selbst verschulde­t haben – weil sie attraktive Kleidung tragen, weil sie hübsch oder jung sind oder am Arbeitspla­tz die Unterstütz­ung männlicher Vorgesetzt­er brauchen. „Er ist es, der sich danebenben­immt“, nicht die Frau“, sagt die Politikeri­n Elizabeth Warren. Petri formuliert es anders: „Männer sind nicht das Wetter.“

Noch immer heißt es: Frauen sind selbst schuld

 ?? Foto: Bertrand Langlois, afp ?? Da war er noch einer der mächtigste­n Filmbosse in Hollywood. Inzwischen ist Harvey Weinstein nur noch ein Mann, dem zahlreiche Frauen sexuelle Übergriffe vorwerfen – bis hin zur Vergewalti­gung.
Foto: Bertrand Langlois, afp Da war er noch einer der mächtigste­n Filmbosse in Hollywood. Inzwischen ist Harvey Weinstein nur noch ein Mann, dem zahlreiche Frauen sexuelle Übergriffe vorwerfen – bis hin zur Vergewalti­gung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany