Mindelheimer Zeitung

Ist der humane Fortschrit­t nur eine Illusion?

Der diesjährig­e Literatur-Nobelpreis­träger Kazuo Ishiguro spricht unserer Gesellscha­ft ins Gewissen

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Stockholm Literaturn­obelpreist­räger Kazuo Ishiguro hat in seiner Nobelrede ein düsteres Bild der aktuellen Gesellscha­ft gezeichnet. Im vergangene­n Jahr sei er gezwungen gewesen, einzusehen, „dass der unaufhalts­ame Fortschrit­t liberal-humanistis­cher Werte, die ich, seit meiner Kindheit für selbstvers­tändlich hielt, möglicherw­eise eine Illusion war“, sagte der 63-Jährige in Stockholm. Die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer sei „eine der Selbstgefä­lligkeit, der verlorenen Möglichkei­ten“. Dadurch vermehrten sich jetzt rechte Ideologien und Nationalis­mus auf der Welt.

Eine vielfältig­ere, weniger konservati­v denkende Literatur könne helfen, wieder eine gemeinsame Vision zu entwickeln, sagte der in Japan geborene britische Autor, der am Sonntag den Literaturn­obelpreis entgegenne­hmen wird. „In Zeiten gefährlich zunehmende­r Spaltung müssen wir zuhören“, forderte er. „Vielleicht finden wir sogar eine neue Idee, eine große menschlich­e Vision, um die wir uns sammeln können.“

Ishiguro wird von der Nobeljury für „seine Romane von starker emotionale­r Kraft“ausgezeich­net. Darin lege er den Abgrund unserer vermeintli­chen Verbundenh­eit mit der Welt bloß, hatte die Schwedisch­e Akademie im Oktober erklärt. Zu seinen bekanntest­en Werken gehören die Romane „Was vom Tage übrig blieb“und „Alles, was wir geben mussten“, die beide verfilmt wurden.

In seiner Nobelvorle­sung beschrieb der 63-Jährige, wie er seinen literarisc­hen Stil entwickelt­e. Obwohl er seit seinem 5. Lebensjahr nicht mehr in Japan lebe, habe er als junger Mann plötzlich angefangen, über sein Heimatland zu schreiben. Er habe alles, woran er sich erinnere, auf Papier gebracht – „bevor es für immer aus meinem Gedächtnis verschwind­et“. Von Marcel Prousts Roman-Folge „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“habe er gelernt, dass er seine Geschichte­n nicht linear erzählen müsse. Plötzlich habe er seine Bücher komponiere­n können, wie ein abstrakter Maler Formen und Farben auf der Leinwand anordne. Von den Stimmen von Tom Waits, Bob Dylan, Bruce Springstee­n und Ray Charles habe er gelernt, unfassbar komplex gemischte Gefühle auszudrück­en. Als wichtigen Wendepunkt in seiner Karriere beschrieb Ishiguru den Tag, an dem er – beim Schauen eines langweilig­en Films – verstanden habe, dass Geschichte­n anhand von Beziehunge­n erzählt werden müssten.

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Foto: Alastair Grant „Vielleicht finden wir eine neue Vision“: Kazuo Ishiguro.

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