Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (25)
DNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ie Jungs waren gerade in einer Phase, in der ihnen Rounders besonders großen Spaß machte, weil sie dann mit uns flirten konnten, und deshalb waren wir an diesem Nachmittag mehr als dreißig Spieler. Der Wolkenbruch hatte eingesetzt, als wir uns umzogen, und wir versammelten uns auf der Veranda – die überdacht war – und warteten, dass der Regen aufhörte. Aber er hörte nicht auf, und als der Letzte von uns aus dem Pavillon trat, herrschte auf der Veranda schon ziemliches Gedränge. Alle liefen ungeduldig durcheinander, und ich erinnere mich, dass Laura mir eine besonders abstoßende Art des Schnäuzens vorführte – sehr empfehlenswert, sagte sie, wenn man einen Jungen loswerden wollte.
Als einzige Aufseherin war Miss Lucy da. Auf das Geländer gestützt, starrte sie in den Regen hinaus, als würde sie versuchen, bis zur anderen Seite des Sportplatzes zu sehen. Ich beobachtete sie so aufmerksam wie immer in jener Zeit, selbst während
ich mit Laura lachte, warf ich verstohlene Blicke auf Miss Lucys Rücken. Sonderbarerweise hielt sie den Kopf ein bisschen zu tief gesenkt, wie ein Tier, das sich duckt und zum Sprung ansetzt. Und weil sie sich so weit über das Geländer beugte, entging sie nur um Haaresbreite dem Wasser, das von der überhängenden Dachrinne tropfte – aber das kümmerte sie anscheinend nicht im Geringsten. Ich weiß noch, dass ich mir sagte, das sei doch ganz normal, sie sei eben ungeduldig wegen des Regens, so dass ich meine Aufmerksamkeit wieder Laura zuwandte. Aber ein paar Minuten später, als ich Miss Lucy schon wieder ganz vergessen hatte und mich über irgendetwas schieflachte, merkte ich auf einmal, dass es ringsum still geworden war und Miss Lucy die Stimme erhoben hatte.
Sie stand auf demselben Fleck wie zuvor, jetzt aber mit dem Gesicht zu uns, so dass sie mit dem Rücken am Geländer lehnte und den Regenhimmel hinter sich hatte.
„Nein, so geht das nicht, tut mir Leid, aber jetzt muss ich euch unterbrechen“, sagte sie, und ich sah, dass sie mit den beiden Jungen sprach, die auf der Bank unmittelbar vor ihr saßen. Ihr Tonfall war nicht eigentlich merkwürdig, nur auffällig laut, so wie sie sonst sprach, wenn sie der Allgemeinheit etwas mitzuteilen hatte, und deshalb waren ja auch alle verstummt. „Nein, Peter, das geht nicht, ich kann euch nicht länger zuhören und schweigen.“
Sie hob den Kopf und erfasste uns alle mit dem Blick, dann holte sie tief Luft. „Na gut, ihr könnt es ebenfalls hören, schließlich geht es euch alle an. Es ist höchste Zeit, dass es mal jemand laut ausspricht.“
Wir warteten, während sie uns stumm anstarrte. Später sagten manche, sie hätten mit einer riesigen Standpauke gerechnet; andere vermuteten, sie wollte uns eine neue Regel für unser Match verkünden. Aber mir war klar, dass es um mehr ging, noch bevor sie ein weiteres Wort gesagt hatte.
„Jungs, ihr müsst mir verzeihen, dass ich euch belauscht habe. Aber es ließ sich kaum vermeiden, ihr wart ja direkt hinter mir. Peter, würdest du den anderen wiederholen, was du zu Gordon gesagt hast?“
Peter J. blickte verwirrt drein, und ich sah, wie er seine Miene gekränkter Unschuld aufsetzte. Aber Miss Lucy forderte ihn noch einmal auf, diesmal viel freundlicher: „Komm schon, Peter, wiederhol bitte noch mal laut, was du vorhin gesagt hast.“
„Wir haben darüber geredet, dass wir Schauspieler werden könnten, und wie das wäre. Was das für ein Leben wäre.“
„Ja“, sagte Miss Lucy, „und du hast zu Gordon gesagt, um die besten Chancen zu haben, müsstest du nach Amerika gehen.“
Peter J. zuckte wieder die Achseln und murmelte: „Ja, Miss Lucy.“
Miss Lucy ließ jetzt den Blick über uns alle wandern. „Ich weiß, dass ihr euch nichts Schlimmes dabei denkt. Aber dieses Gerede kommt mir hier einfach zu oft vor. Ich höre es ständig, man hat es zugelassen, und das ist nicht in Ordnung.“Ich sah, wie es aus der Dachrinne auf ihre Schulter tropfte, aber sie schien nichts zu bemerken. „Wenn niemand sonst mit euch spricht“, fuhr sie fort, „dann muss ich es eben tun. Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass ihr es wisst und es doch nicht wisst. Man hat euch etwas gesagt, aber keiner von euch versteht es wirklich, und ich wage zu behaupten, dass manche Leute es nur zu gern dabei belassen würden. Ich nicht. Wenn ihr ein einigermaßen anständiges Leben führen wollt, müsst ihr Bescheid wissen – wirklich Bescheid wissen. Niemand von euch wird nach Amerika gehen, niemand von euch wird ein Filmstar. Und niemand von euch wird im Supermarkt arbeiten, wie es sich ein paar von euch neulich ausgemalt haben. Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle. Ihr seid nicht wie die Schauspieler, die ihr in euren Videos seht, ihr seid nicht mal wie ich. Ihr seid zu einem Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch. Deshalb dürft ihr nicht so reden, ich will es nicht mehr hören. Bald werdet ihr Hailsham verlassen, und der Tag ist nicht mehr so fern, an dem ihr euch auf die ersten Spenden vorbereiten werdet. Daran müsst ihr immer denken. Wenn ihr ein anständiges Leben führen wollt, müsst ihr wissen, wer ihr seid und was euch bevorsteht, jeder Einzelne von euch.“
Miss Lucy verstummte, aber mein Eindruck war, dass sie innerlich weiter redete, denn ihr Blick ging noch eine ganze Weile hin und her, wanderte von einem Gesicht zum anderen, als spräche sie noch mit uns. Wir waren alle ziemlich erleichtert, als sie sich wieder zum Sportplatz umdrehte.
„Jetzt hat es schon nachgelassen“, sagte sie, obwohl es unvermindert heftig weiter regnete. „Gehen wir raus. Vielleicht kommt dann auch bald die Sonne wieder.“
Mehr sagte sie wohl nicht. Als ich vor ein paar Jahren in dem Zentrum in Dover mit Ruth darüber sprach, behauptete diese, Miss Lucy habe damals noch viel mehr erzählt: in welcher Reihenfolge die Spenden normalerweise vorgenommen würden und dass wir vor dem Spenden erst einmal eine Zeit lang Betreuer wären; auch habe sie uns von den Erholungszentren erzählt – aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war.
Gut, wahrscheinlich hatte Miss Lucy ursprünglich eine solche Absicht gehabt. Aber nachdem sie damit angefangen hatte und die verwirrten, verlegenen Gesichter vor sich sah, war es ihr unmöglich, die Sache zu Ende zu bringen – das ist meine Vermutung.
Schwer zu sagen, welche Wirkung Miss Lucys Ausbruch hatte.
Die Nachricht machte ziemlich schnell die Runde, dabei wurde aber vor allem über Miss Lucy geredet und weniger darüber, was sie uns hatte sagen wollen.