Mindelheimer Zeitung

Wenn die Familie kein Zuhause ist

Nicht alle Eltern können sich fürsorglic­h und liebevoll um ihre Kinder kümmern. Diese Mädchen und Buben nimmt das Josefsheim im Landkreis Augsburg auf. Wie sie dort Weihnachte­n feiern

- VON DANIELA HUNGBAUR

Fischach Irgendwann haben er und sein Bruder aufgegeben. Immer donnerstag­s riefen sie bei ihrer Mutter an. Dann täglich. Immer und immer wieder. Doch seit Februar ist sie nicht mehr zu erreichen. Sie hat sich einfach nicht mehr bei ihren Söhnen gemeldet. Wo sie jetzt ist? Der 14-Jährige zuckt die Achseln. Keine Ahnung. Ob er sie vermisst? „Jetzt nicht mehr“, sagt er und gibt sich cool. Und sein Vater? „Der wollte nichts mehr von uns wissen.“Stefan* und sein Bruder leben im Heim. Im Josefsheim Reitenbuch im Landkreis Augsburg. Zusammen mit 45 anderen Kindern im Alter zwischen sieben und 17 Jahren.

Viele von den Kindern haben eine ähnliche Lebensgesc­hichte wie die beiden Brüder: Die Eltern leben zwar noch oder zumindest ein Elternteil, aber sie können sich nicht so um ihre Kinder kümmern, wie es die Mädchen und Buben bräuchten. Spitzt sich die Situation zu, schaltet sich das Jugendamt ein. Oder Eltern bitten um Hilfe. Oder die Kinder gehen zur Polizei. Dann finden die Kinder in Einrichtun­gen wie dem Josefsheim ein zweites Zuhause. Die elfjährige Manuela lebt schon seit über zehn Jahren dort. Eine ihrer beiden Schwestern auch. „Meine große Schwester wohnt beim Papa. Mein Bruder ist im Gefängnis“, erzählt sie offen. Ihr Vater holt sie an Weihnachte­n zwar ab. Aber nur für kurze Zeit. Er müsse viel arbeiten, sagt das zierliche, aufgeschlo­ssene Mädchen mit den braunen Haaren und den zarten Sommerspro­ssen im Gesicht. Und die Mutter? „Das wissen wir nicht, wo die ist.“Doch als sie weiter erzählt, wird klar, dass ihre Mutter seit Jahren mit schweren Alkoholsuc­htprobleme­n kämpft.

Suchterkra­nkungen sind keine Seltenheit, sagt Norbert Haban. Er leitet das Josefsheim. Die Eltern darf man seiner Einschätzu­ng nach nicht vorschnell verurteile­n. Körperlich­e und psychische Probleme machten es vielen nicht möglich, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern. Nicht immer klappt auch das Zusammenle­ben mit einem neuen Partner. Die 15-jährige Susanne kann davon berichten. Sie musste erleben, was es heißt, wenn die Mutter früh stirbt, der Vater eine andere Frau mit eigenen Kindern findet, das Familienle­ben dann aber nicht mehr funktionie­rt. Dabei ist sie sehr freundlich, fleißig und gut in der Schule. Sie besucht die Realschule und hat nach ihrem Abschluss fürs nächste Jahr schon einen Ausbildung­splatz als Hotelfachf­rau.

„Alle Kinder sind freiwillig hier“, betont Heimleiter Haban. Und es werden selbstvers­tändlich alle Feste gefeiert. Weihnachte­n sowieso. Das ganze große, historisch­e Haus ist festlich geschmückt. Im Eingang steht eine schöne Krippe. Elektrisch­e und echte Kerzen erhellen die Räume. Gleich im Eingang türmen sich liebevoll verpackte Wichtelges­chenke. Die Zimmer der Gruppen, in denen die Kinder und Jugendlich­en wohnen, sind kreativ und gemütlich gestaltet. Hier wird gemalt, musiziert, fern geguckt und gespielt. Selbstvers­tändlich dürfen auch Freunde von außerhalb kommen. „Bevor sie hier herkommen glauben viele, wir wohnen in einem Heim mit Gittern an den Fenstern“, sagt Stefan. Viele Bastelarbe­iten und Fotos zieren die Gänge. In einer Kü- backt ein Mädchen duftende Plätzchen.

Manuela hat die Hausführun­g übernommen. Stolz verweist sie nicht nur auf die eigene Turnhalle und spaziert mit der Besucherin in den Partykelle­r, vor allem führt sie den kleinen Kinosaal vor. Auch in ihr eigenes Zimmer, das sie mit zwei weiteren Mädchen teilt, erlaubt sie einen Blick. Dort zeigt sie vor allem die vielen DVDs von Bibi & Tina, die sie schon hat. Weitere Filme sollen an Weihnachte­n folgen. Schließlic­h gibt es im Heim wie bei anderen Kindern auch Geschenke.

Und wer die Kinder fragt, was sie sich wünschen, bekommt Sachen aufgeliste­t, die auf vielen Wunschzett­eln stehen: Adidas-Shirts, Spiele, eine besondere Uhr, eine Kette, eine Sporttasch­e... Zur Erfüllung der Wünsche leistet auch die Kartei der Not, das Leserhilfs­werk unserer Zeitung, jedes Jahr einen Beitrag. „Es ist unserem Kuratorium ein großes Anliegen, gerade Kindern und Jugendlich­en, die immer unverschul­det in Not geraten, nach Kräften zu helfen“, sagt Arnd Hansen, Geschäftsf­ührer der Kartei der Not. „Dank vieler Spenden können wir ihnen an einem Weihnachte­n ohne Eltern gemeinsam mit der Einrichtun­g zumindest mit einem kleinen Geschenk eine Freude machen. Wo möglich, unterstütz­en wir auch zum Beispiel den Kauf von Kleidung oder den Start in das eigene Leben nach dem Auszug aus dem Heim.“

Michaels Wunsch allerdings kann man mit keinem Geld der Welt bezahlen: „Ich wünsche mir vor allem, dass meine Mutter wieder da ist“, sagt der 13-Jährige ernst. Doch seine Mutter ist früh gestorben.

Stefans Mutter lebt noch. Man weiß nur nicht wo. Stefan ist selbstbewu­sst. Zielstrebi­g. Nach der Schule will er eine Ausbildung zum Fluggeräte­mechaniker bei Premium Aerotec machen. Ob er seine Mutter wirklich nicht vermisst? Heimleiter Haban winkt ab. „Alle hier vermissen ihre Eltern“, sagt er. „Unzuverche lässigkeit und Unsicherhe­it sind für die Kinder besonders schlimm.“Doch oft tut das Vermissen so weh, dass man den Schmerz mit besonderer Coolness überspielt. Stefan ist besonders cool.

*Namen der Kinder von der Redaktion geändert

Manche Wünsche sind nicht bezahlbar

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Foto: Ulrich Wagner Natürlich gibt es auch für die Kinder und Jugendlich­en im Josefsheim Reitenbuch im Landkreis Augsburg an Weihnachte­n Geschenke – und doch unterschei­det sich das Weih nachtsfest oftmals elementar von dem von Gleichaltr­igen.

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