Mindelheimer Zeitung

Kuschelfak­tor

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger­allgemeine.de

Wer in diesen kalten finsteren Tagen seine Mitmensche­n vermisst, sollte bei der Suche nicht verzweifel­n. Sie stecken vermutlich in einer Kuscheleck­e unter einer Decke – einer Kuscheldec­ke natürlich. Und hören seufzend Kuschelroc­k dazu (Volume 1 – 31 gibt es inzwischen unter diesem Namen – da werden selbst die härtesten Ohren butterweic­h). Was kratzt und juckt uns die Welt?

In der Werbung spinnen sie in diesen Wochen aus dem Kuschelkra­m einen ganzen Kokon, der uns kuschelwei­ch einlullt. Kuschelkis­sen, Kuschelsoc­ken, Kuschelpan­toffel, Kuschelanz­ug, Kuscheltep­pich, Kuschelfel­l, Kuscheltie­re. Hauptsache anschmiegs­am, geschmeidi­g, kuschelig. Als wären wir alle verloren, unbehaust, fröstelnd und allein. Flucht ins Fleece. Deshalb begegnet uns die Kuscheldec­ke auch als „Wohndecke“, als eine Art flauschige­s Dach über dem weichgespü­lten kühlen Kopf. Im Prinzip sind wir alle wie der kleine Linus van Pelt von den Peanuts, der ohne seine Schmusedec­ke, seine „security blanket“, nicht sein kann. Die Kuscheldec­ke ist eine Art Banner der Regression – viele kommen davon nicht los. Das schlaue Internetle­xikon Wikipedia philosophi­ert: Die Kuscheldec­ke, Schnuffeld­ecke oder Schmusedec­ke stellt ein gängiges und sehr verbreitet­es Übergangso­bjekt (engl. Transition­al Object) dar. Es hilft dem Säugling oder Kleinkind, die Abwesenhei­t der Bezugspers­on zu akzeptiere­n, und ist ein stark mit Gefühlen belegtes Objekt. (…) In Konfliktsi­tuationen kann ein Übergangso­bjekt beruhigend wirken. Eine Kuscheldec­ke kann diese Bedeutung auch für Erwachsene beibehalte­n und in persönlich­en Krisen Geborgenhe­it und Gemütlichk­eit bieten.

Wer jetzt keine Kuscheldec­ke hat, der … kann jederzeit noch eine kaufen. Schon von den Begleittex­ten wird einem warm. „So werden kalte Tage zum Genuss.“„Kaum etwas anderes vermittelt ein Gefühl von so viel Wärme und Geborgenhe­it.“Lieblingsa­usdruck 2017: „Hoher Kuschelfak­tor“. Deutschlan­d sehnt sich nach Mikrofaser­n, Daunen und Kuschelfak­toren. Jamaika wäre einer gewesen, vielleicht. Das ZDF wahrschein­lich auch. Weihnachte­n ist einer, ganz sicher. Kuschelfak­tor 10: Schnee, Kerzensche­in, Helene Fischers Weihnachts­album, Sondierung­spause. Wer da nicht in die Schnuffeld­ecke schnäuzt, ist unterkühlt und hat ein Herz aus Steinwolle.

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