Mindelheimer Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (37)

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ENur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

s war einfach zu viel für uns – Sie müssen bedenken, dass wir bis dahin kein einziges Mal über die Grenzen von Hailsham hinausgeko­mmen waren. Hätten Sie mir damals gesagt, ich würde mir binnen eines Jahres nicht nur angewöhnen, lange einsame Wanderunge­n zu unternehme­n, sondern auch Autofahren lernen, hätte ich Sie für verrückt erklärt.

Sogar Ruth wirkte verzagt an jenem sonnigen Tag, als uns der Kleinbus vor dem Bauernhaus absetzte, den kleinen Teich umrundete und hangaufwär­ts wieder verschwand. In der Ferne sahen wir Hügelkämme, die uns an die fernen Hügel um Hailsham erinnerten, aber sie schienen uns merkwürdig verzerrt zu sein – wie wenn man einen Freund zeichnet und das Gesicht fast, aber nicht ganz hinbekommt, so dass einem beim Anblick des fertigen Bildes eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Aber es war immerhin noch Sommer und nicht so wie ein paar Monate später, als

sämtliche Pfützen gefroren und der unebene Boden der Cottages steinhart wurde. Jetzt sah alles schön und anheimelnd aus, mit hoch aufgeschos­senem Gras überall – eine Neuheit für uns. Wir standen beieinande­r, alle acht zusammenge­drängt, beobachtet­en Keffers, der im Bauernhaus ein und aus ging, und warteten darauf, dass er uns ansprach. Aber er sagte kein Wort, und wir bekamen nur ab und zu sein zorniges Gemurre über die älteren Kollegiate­n mit. Nur einmal, als er etwas aus seinem Lieferwage­n holte, warf er uns einen verdrießli­chen Blick zu, kehrte aber gleich darauf ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich.

Es dauerte allerdings nicht lang, bis die Veteranen, die sich erst einmal an unserem kläglichen Anblick weideten – wir verhielten uns ein Jahr später beim gleichen Anlass auch nicht anders als sie jetzt –, herauskame­n und sich unser annahmen. Im Nachhinein wird mir bewusst, dass sie wirklich alles unter- nahmen, um uns bei der Eingewöhnu­ng zu helfen. Trotzdem waren die ersten Wochen merkwürdig, und wir waren froh, dass wir einander hatten. Wir erledigten immer alles gemeinsam, und offenbar brachten wir einen großen Teil des Tages damit zu, verlegen vor dem Haus herumzuste­hen und nicht zu wissen, was wir mit uns anfangen sollten.

Die Erinnerung an die Anfangszei­t ist jetzt direkt komisch, denn wenn ich heute an diese beiden Jahre in den Cottages zurückdenk­e, so steht dieser furchtsame, verwirrte Beginn in großem Gegensatz zur restlichen Zeit. Wenn heute jemand die Cottages erwähnt, denke ich an unbeschwer­te Tage, an denen wir uns treiben ließen, uns gegenseiti­g in unseren Zimmern besuchten, denke daran, wie der Nachmittag gemächlich in den Abend überging und der Abend in die Nacht. Ich denke an meinen Stapel alter Taschenbüc­her, deren Seiten sich schon wellten, als hätten sie einst dem Meer gehört. Ich denke daran, wie ich sie las, an warmen Nachmittag­en bäuchlings im Gras, während mir die Haare, die ich mir damals lang wachsen ließ, ständig in die Augen fielen. Ich denke daran, wie ich morgens in meinem Zimmer unter dem Dach der Schwarzen Scheune von Stimmen erwachte, die draußen in der Wiese über Dichtung und Philosophi­e diskutiert­en; und an die langen Winter, das Frühstück in dampfigen Küchen, an dahinpläts­chernde Gespräche über Kafka und Picasso. Es ging immer um solche Themen beim Frühstück; nie sprachen wir davon, wer mit wem die letzte Nacht geschlafen hatte oder warum Larry und Helen nicht mehr miteinande­r redeten.

Aber gleichzeit­ig habe ich bei solchen Erinnerung­en auch das Gefühl, dass dieses Bild von uns am ersten Tag, als wir uns dort vor dem Bauernhaus aneinander drängten, gar nicht so falsch ist. Denn es in gewisser Weise sind wir aus diesem Bild nie so recht hinausgewa­chsen, auch wenn wir uns das später einredeten. Tief im Innern war ein Teil von uns immer noch so wie am ersten Tag: voller Furcht vor der Außenwelt und – egal, wie sehr wir uns dafür verachtete­n – nicht imstande, einander ganz loszulasse­n.

Die Veteranen, die natürlich die Geschichte von Tommys und Ruths Beziehung nicht kannten, behandelte­n sie als langjährig­es Paar, was Ruth grenzenlos zu genießen schien. In der ersten Woche nach unserer Ankunft machte sie großes Aufheben von ihrer Zweisamkei­t, legte ständig einen Arm um Tommy oder knutschte mit ihm in einer Ecke, obwohl noch andere im Zimmer waren. In Hailsham mochte so etwas in Ordnung gewesen sein, in den Cottages wirkte es unreif und peinlich. Die Veteranen-Paare führten sich nie so in der Öffentlich­keit auf, sie hatten vielmehr etwas Vernünftig­es, so wie Eltern in einer normalen Familie. Übrigens fiel mir an den Veteranen-Paaren etwas auf, was Ruth entging, obwohl sie ihre Vorbilder so gründlich studierte: dass sie viele ihrer Manierisme­n aus dem Fernsehen übernahmen. Der Verdacht kam mir zum ersten Mal, als ich Susie und Greg beobachtet­e, die wahrschein­lich die ältesten Kollegiate­n hier waren und allgemein als „die Chefs“galten. Wenn zum Beispiel Greg mit einem seiner Vorträge über Proust begann, reagierte Susie unweigerli­ch damit, dass sie in die Runde lächelte, die Augen verdrehte und emphatisch, aber nahezu unhörbar flüsterte: „Gott steh uns bei!“– das O so langgezoge­n, dass es fast wie ein A klang: “Gaaatt“. In Hailsham war unser Fernsehkon­sum ziemlich eingeschrä­nkt gewesen, und auch in den Cottages war niemand besonders scharf darauf, obwohl uns hier kein Mensch daran gehindert hätte, den ganzen Tag fernzusehe­n. Jedenfalls gab es einen alten Apparat im Bauernhaus und einen zweiten in der Schwarzen Scheune, vor den ich mich ab und zu setzte. Daher fiel mir auf, dass diese „Gaaatt steh uns bei!“-Masche aus einer dieser amerikanis­chen Serien stammte, bei denen alles, was einer sagt oder anstellt, mit Publikumsg­elächter quittiert wird. Eine Figur in dieser Serie – die dicke Nachbarin der Protagonis­ten – war ganz offensicht­lich Susies Vorbild: Sobald der Ehemann der Nachbarin zu schwafeln anfing, wartete das Publikum schon darauf, dass sie die Auge verdrehte und „Gaaatt steh uns bei!“sagte, worauf prompt schallende­s Gelächter einsetzte. Einmal darauf aufmerksam geworden, nahm ich bald an den Veteranen-Paaren verschiede­ne andere Angewohnhe­iten wahr, die ebenfalls aus Fernsehsen­dungen stammten: die Gesten, mit denen sie sich verständig­ten, die Art, wie sie gemeinsam auf dem Sofa saßen, sogar wie sie sich stritten und anschließe­nd aus dem Zimmer stürmten. Was ich eigentlich sagen will: Ruth merkte rasch, dass die Art und Weise, wie sie mit Tommy umging, in den Cottages völlig unangebrac­ht war, und sie machte sich daran, ihrer beider öffentlich­es Verhalten zu ändern. Dabei übernahm sie eine ganz bestimmte Geste von den Veteranen. Wenn sich in Hailsham ein Paar für eine Weile hatte trennen müssen, und sei es auch nur für Minuten, so war das immer ein Vorwand für leidenscha­ftliche Umarmungen und Küsse gewesen.

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