Mindelheimer Zeitung

Gleichheit auf Rezept? Die Tücken der Bürgervers­icherung

Mit Verve kämpft die SPD gegen eine vermeintli­che Zwei-Klassen-Medizin und für eine staatliche Einheitska­sse. Dabei ist das bisherige System besser als sein Ruf

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Unsere Gesundheit ist uns lieb und teuer. Von der Kopfschmer­ztablette über den Yoga-Kurs für Schwangere bis zur neuesten Krebsthera­pie fließen in Deutschlan­d jedes Jahr weit über 300 Milliarden Euro in das Gesundheit­swesen. Es gehört zu den besten weltweit, etwas umständlic­h organisier­t vielleicht, dabei aber immer noch auf ein Ziel ausgericht­et: Jeder Patient, ob reich, ob arm, ob privat oder gesetzlich versichert, soll die Behandlung bekommen, die er aus ärztlicher Sicht benötigt.

Umso erstaunlic­her ist es, mit welcher Verve die SPD gegen die vermeintli­che Zwei-Klassen-Medizin zu Felde zieht und in den Gesprächen mit der Union den Einstieg in die sogenannte Bürgervers­icherung fordert, eine Art Einheitska­sse, in der Beamte und Freiberufl­er genauso Mitglieder sind wie Arbeiter, Angestellt­e oder die Bezieher von Hartz IV. Mit dem plakativen Bild von der Zwei-Klassen-Medizin suggeriere­n die Befürworte­r der Bürgervers­icherung, dass Patienten in Deutschlan­d schon deshalb schlechter behandelt werden, weil sie „nur“in der AOK, einer Ersatzoder einer Betriebskr­ankenkasse versichert sind – als ob alleine die Police einer privaten Assekuranz ein Mindestmaß an medizinisc­her Qualität garantiere­n würde.

Tatsächlic­h ist das deutsche Gesundheit­swesen mit dem Nebeneinan­der von gesetzlich­er und privater Versicheru­ng bisher ganz gut gefahren. Im vergangene­n Jahr, zum Beispiel, haben die privaten Kassen 25 Prozent der Arzthonora­re bezahlt, obwohl nur elf Prozent der Patienten bei ihnen versichert sind. Und selbst wenn die Warnung der Privaten vor einem Praxenster­ben überzogen sein mag, falls die Bürgervers­icherung kommt: Die Beispiele anderer Länder zeigen, dass staatliche Einheitsve­rsicherung­en vielleicht solidarisc­her finanziert sind, deswegen aber nicht automatisc­h eine bessere medizinisc­he Versorgung bieten. Seit Einführung der Einheitsta­rife etwa werden die Wartezeite­n in den Kliniken in den Niederland­en immer länger, von den dramatisch­en Versorgung­sengpässen in Großbritan­nien gar nicht zu reden. In Deutschlan­d dagegen sind es nicht zuletzt die (höheren) Einnahmen von den Privatpati­enten, mit denen Ärzte ihre Praxen auf dem neuesten Stand halten – und davon profitiere­n auch die gesetzlich Versichert­en, die zu ihnen kommen.

Nüchtern betrachtet hat die Bürgervers­icherung nur einen Vorteil: In dem Moment, in dem auch Beamte, Freiberufl­er und Selbständi­ge in sie einzahlen und irgendwann womöglich auch noch Kassenbeit­räge auch auf Zins- oder Mieteinnah­men fällig werden, fließt noch deutlich mehr Geld in die gesetzlich­e Krankenver­sicherung. Unterfinan­ziert aber ist die auch bisher nicht, im Gegenteil: Die Beiträge der privaten Kassen steigen stärker als die der gesetzlich­en, die dank der guten Konjunktur und hoher Steuerzusc­hüsse im Moment im Geld schwimmen. So würde die Bürgervers­icherung am Ende mehr Probleme schaffen als lösen: Weniger Wettbewerb bedeutet ja auch weniger Innovation. Und da der Staat nicht in bereits bestehende Verträge eingreifen kann, wäre eine Einheitsve­rsicherung erst dann flächendec­kend eingeführt, wenn auch der letzte privat Versichert­e gestorben ist, also in 60 oder 70 Jahren. Dazu käme eine auf Jahre hinaus unsichere Rechtslage, weil die Versichere­r ihr Geschäftsm­odell nicht kampflos aufgeben und vor die Gerichte ziehen würden.

Genug zu tun gibt es in der Gesundheit­spolitik auch so. Zu wenige Pfleger in den Kliniken, zu wenige Ärzte auf dem Land, ein Übermaß an Bürokratie, die ungerechte Verteilung der Honorare zwischen Fach- und Allgemeinm­edizinern: Für die nächste Legislatur sollte das an Herausford­erungen reichen.

Jeder Patient muss bekommen, was er benötigt

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