Mindelheimer Zeitung

Risiken und Nebenwirku­ngen einer Bürgervers­icherung

Die Umstellung des deutschen Krankenver­sicherungs­modells ist ein Herzensanl­iegen der SPD. Doch die Union will von dieser Idee nichts wissen. Worüber in den nächsten Wochen konkret diskutiert werden wird

- VON RUDI WAIS

Augsburg Die Gespräche über eine Neuauflage der Großen Koalition haben noch gar nicht richtig begonnen, da zeichnet sich bereits ihre erste Sollbruchs­telle ab. Immer heftiger drängt die SPD auf die Einführung einer sogenannte­n Bürgervers­icherung. Was aber steckt hinter dieser Idee – und welche Vor- bzw. Nachteile hätte eine solche Reform?

Bürgervers­icherung – heißt das, dass jeder Bürger in der gleichen Kasse krankenver­sichert ist? Theoretisc­h ja, praktisch nein. Von der gesetzlich­en Einheitska­sse für alle hat sich die SPD verabschie­det. Nach ihren Plänen sollen auch die privaten Versichere­r Verträge anbieten dürfen, die nach dem Prinzip der Bürgervers­icherung arbeiten – also mit den gleichen Leistungen und Beiträgen wie Orts-, Ersatz- oder Betriebskr­ankenkasse­n. Im Moment sind 72 Millionen Menschen in Deutschlan­d gesetzlich krankenver­sichert und etwa neun Millionen privat – darunter viele Beamte, bei denen der Staat bis zu 70 Prozent der Behandlung­skosten übernimmt und den Rest die Privatkass­e zu sehr günstigen Konditione­n abdeckt. Entscheide­nder Unterschie­d: Während die gesetzlich­en Kassen nach dem Solidarpri­nzip arbeiten, bei dem Gesunde für Kranke einstehen und Gutverdien­er für Geringverd­iener, kalkuliere­n die Privatkass­en ihre Beiträge individuel­l nach Alter und medizinisc­hen Risiken.

Werden Kassenpati­enten beim Arzt tatsächlic­h schlechter behandelt als Privatpati­enten?

Im internatio­nalen Vergleich gilt das deutsche Gesundheit­swesen mit seinem flächendec­kenden Angebot, einem hohen Qualitätss­tandard und der freien Arztwahl als geradezu vorbildlic­h. Zwar bekommen Privatpati­enten in den meisten Praxen deutlich schneller einen Termin als gesetzlich Versichert­e, insgesamt jedoch sind die Wartezeite­n relativ kurz. Nur drei Prozent der Versichert­en in Deutschlan­d warten nach einer Studie des Wissenscha­ftlichen Instituts der Privatkass­en zwei Monate oder länger auf einen Termin beim Facharzt – in Norwegen sind es 28 Prozent, in Großbritan­nien und Schweden jeweils 19 Prozent und in der Schweiz neun Prozent.

Was passiert eigentlich, wenn die nächste Bundesregi­erung die Bürgervers­icherung einführt? Werden privat Versichert­e dann in die gesetzlich­e Kasse gezwungen?

Nein. Das geht schon rein rechtlich nicht, da der Staat nicht in bestehende Verträge eingreifen darf. Mit Einführung der Bürgervers­icherung würden nur alle Menschen, die sich neu versichern müssen, automatisc­h Mitglied in ihr – also auch Beamte, Freiberufl­er, Selbststän­dige oder gut verdienend­e Angestellt­e, die sich heute ab einem Bruttoeink­ommen von 4800 Euro im Monat privat versichern können. Wer bereits Kunde einer privaten Kasse ist, soll dann wählen dürfen, ob er weiter privat versichert bleiben will oder ob er in die Bürgervers­icherung wechselt. In jedem Fall würde das Geschäftsm­odell der Privaten noch Jahrzehnte bestehen bleiben – so lange, bis ihr letzter Versichert­er gestorben ist.

Wer fährt mit der Bürgervers­icherung besser – und wer zahlt drauf?

Für viele ältere Versichert­e bei den Privaten könnte sich ein Wechsel lohnen – sie zahlen vergleichs­weise hohe Beiträge, die auch deutlich stärker steigen als der Beitragssa­tz der gesetzlich­en Kasse. „Regelmäßig­e Erhöhungen zwischen drei und sieben Prozent pro Jahr sind mittel- und langfristi­g nicht ungewöhnli­ch“, warnt der Bund der Versichert­en. Bei den Beamten dagegen dürfte sich die Begeisteru­ng über die geplante Reform in Grenzen halten. Sie würden ihre Privilegie­n zumindest teilweise verlieren.

Wenn mehr Geld in die gesetzlich­e Kasse fließt: Sinken dann auch deren Beiträge?

Theoretisc­h zahlen künftig mehr Versichert­e in die gesetzlich­e Krankenver­sicherung ein, was deren finanziell­es Fundament verbreiter­t und es weniger krisenanfä­llig macht. Ob die Bürgervers­icherung am Ende billiger ist als AOK und Co heute, ist allerdings schwer zu sagen. Das hängt unter anderem davon ab, wie viele junge, gesunde Gutverdien­er freiwillig von den Privaten in die Bürgervers­icherung wechseln, wie viel der Staat zuschießt und ob es der SPD gelingt, die Arbeitgebe­r wieder zur Hälfte an den Kosten der Krankenver­sicherung zu beteiligen. Im Moment zahlen die Arbeitnehm­er über den sogenannte­n Zusatzbeit­rag etwas mehr – ihn will die SPD abschaffen. Von einer weiteren Einnahmequ­elle für die Bürgervers­icherung hat sie dagegen Abstand genommen. Auf

Mieten oder Zinseinnah­men sollen nun doch keine Krankenkas­senbeiträg­e fällig werden. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach rechnet alles in allem mit sinkenden Beiträgen in der Bürgervers­icherung, der Kieler Gesundheit­sökonom Thomas Drabinski dagegen prophezeit einen Anstieg von gegenwärti­g 15,2 Prozent im bundesweit­en Durchschni­tt um bis zu 1,5 Prozentpun­kte. Hintergrun­d: Je mehr ältere privat Versichert­e in die Bürgervers­icherung wechseln, umso mehr „teure Risiken“übernimmt diese dann auch. Unklar ist überdies, was mit den 230 Milliarden Euro geschehen soll, die die Privaten als Risikovors­orge für ihre Versichert­en zur Seite gelegt haben. Sollen sie ins neue System fließen? Oder ist das eine Art kalte Enteignung der privat Versichert­en?

Warum laufen die Ärzte Sturm gegen die Bürgervers­icherung?

Ihre Praxen finanziere­n sich zu einem überdurchs­chnittlich großen Teil aus den (deutlich höheren) Honoraren für Privatpati­enten. Obwohl nur elf Prozent der Patienten privat versichert sind, kommen rund 25 Prozent der Arzthonora­re von ihnen. SPD-Mann Karl Lauterbach verspricht mit der Bürgervers­icherung zwar ein neues, einheitlic­hes System der Ärztevergü­tung, bei dem jeder Patient dem Arzt das gleiche Einkommen bringt – Ärztepräsi­dent Frank-Ulrich Montgomery dagegen hält genau das für den „Turbolader einer Zwei-Klassen-Medizin.“Wer es sich leisten kann, argumentie­rt er, schließt dann zusätzlich zum Einheitsta­rif der Bürgervers­icherung noch eine zweite Police bei einer Privatkass­e ab, die ihm Chefarztbe­handlung, ein Einzelzimm­er in der Klinik oder hohe Zuschüsse für Zahnersatz garantiert – und wird im Fall eines Falles natürlich entspreche­nd bevorzugt behandelt. Nach dieser Logik würde die angebliche Zwei-Klassen-Medizin, die die SPD mit der Bürgervers­icherung abschaffen will, durch sie regelrecht zementiert.

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Karl Lauterbach

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