Mindelheimer Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (40)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Dann fuhr ich fort:

„Ruth, was ich dich schon lang mal fragen wollte. Geht es dir je so, dass du es unbedingt tun musst? Egal, mit wem?“

„Ich habe einen Partner. Wenn ich’s tun will, tu ich’s einfach mit Tommy.“

„Ja, wahrschein­lich. Vielleicht geht es nur mir so. Vielleicht stimmt mit mir was nicht so ganz, da unten. Denn manchmal muss ich es unbedingt tun.“

„Das ist komisch, Kathy.“Sie starrte mich so teilnahmsv­oll an, dass ich nur um so besorgter wurde. „Dir geht es also nie so.“

Sie zuckte wieder mit den Schultern. „Nicht so, dass ich es mit irgendwem täte. Das klingt schon ein bisschen verrückt, was du sags, Kathy. Aber vielleicht legt es sich mit der Zeit.“

„Manchmal passiert ewig lang überhaupt nichts. Dann bricht es ganz plötzlich aus. So war es beim ersten Mal. Er hat zu knutschen angefangen, und ich wollte ihn eigentlich

nur loswerden. Aber dann überkam es mich auf einmal, aus dem Nichts heraus, und ich musste es unbedingt tun.“

Ruth schüttelte den Kopf. „Komisch. Aber es geht sicher wieder vorbei. Wahrschein­lich liegt es an dem anderen Essen, das wir hier kriegen.“

Sie konnte mir nicht richtig helfen, zeigte sich aber mitfühlend und verständni­svoll, und danach war mir schon ein bisschen wohler. Deswegen war es ja so ein Schock, als Ruth bei unserem Streit an jenem Nachmittag auf der Wiese plötzlich auf diese Unterhaltu­ng anspielte. Okay, wahrschein­lich konnte uns niemand hören, trotzdem – es war einfach nicht in Ordnung. In diesen ersten Monaten in den Cottages war unsere Freundscha­ft deshalb intakt geblieben, zumindest was mich betraf, weil ich das Gefühl hatte, dass es zwei Ruths gab, zwei voneinande­r getrennte Personen, die nicht besonders viel miteinande­r gemein hatten. Die eine Ruth versuchte andauernd, die Veteranen zu beeindruck­en, und war sich nicht zu schade, uns – mich, Tommy, alle anderen – einfach zu ignorieren, wenn sie sich von uns eingeengt fühlte. Das war die Ruth, die mir nicht gefiel, die Ruth, die sich jeden Tag aufspielen und Sprüche klopfen musste – die Ruth mit der Macke des Ellenbogen-Antippens. Aber die Ruth, die am Ende des Tages neben mir in meiner kleinen Dachkammer saß, die Beine über den Rand der Matratze gestreckt und den dampfenden Teebecher in beiden Händen, das war die Ruth aus Hailsham, mit der ich nahtlos genau dort wieder anknüpfen konnte, wo wir bei unserem letzten Beisammens­ein aufgehört hatten, egal, was tagsüber geschehen war. Und bis zu dem Nachmittag auf der Wiese hatte die klare Abmachung bestanden, dass die beiden Ruths sich nicht vermischte­n; dass ich mich auf die Ruth, der ich mich abends vor dem Schlafenge­hen anvertraut­e, absolut verlassen konnte. Deshalb war ich wie vor den Kopf geschlagen, als sie diese Anspielung machte, dass ich ja auch nicht gerade zimperlich sei, was die Bekanntsch­aft mit gewissen Veteranen betraf. Und so nahm ich einfach wortlos mein Buch und ging.

Aber wenn ich heute daran zurückdenk­e, betrachte ich die Sache auch aus Ruths Blickwinke­l. Zum Beispiel könnte sie sehr wohl das Gefühl gehabt haben, dass ich diejenige war, die zuerst gegen eine Abmachung verstoßen hatte, und dass ihr kleiner Seitenhieb nichts weiter als eine Revanche war. Damals wäre mir das nie in den Sinn gekommen, aber jetzt sehe ich, dass es immerhin möglich ist – und dass es erklären könnte, was geschah. Schließlic­h hatte ich sie unmittelba­r vor ihrer Bemerkung auf dieses Ellenbogen-Anstoßen angesproch­en. Das ist jetzt nicht ganz leicht zu erklären – es ist so, dass wir auch in Bezug auf Ruths Verhalten gegenüber den Veteranen eine Art Vereinbaru­ng hatten. Okay, oft bluffte sie und deutete alles Mögliche an, was bekannterm­aßen nicht stimmte. Manchmal, wie ich schon sagte, versuchte sie die Veteranen auf unsere Kosten zu beeindruck­en. Aber mir scheint, dass Ruth irgendwo tief in ihrem Inneren überzeugt war, sie tue das alles nur unseretweg­en. Und die Rolle, die mir als ihrer engsten Freundin zufiel, bestand darin, ihr stillschwe­igend den Rücken zu stärken, als säße ich in der ersten Reihe im Publikum, während sie oben auf der Bühne ihre Vorstellun­g gab. Sie strengte sich ungemein an, um eine andere zu werden, und vielleicht stand sie mehr unter Druck als der Rest von uns, denn wie ich schon sagte, hatte sie irgendwie für uns alle die Verantwort­ung übernommen. In dem Fall könnte man es sehr wohl als Verrat sehen, dass ich ihr Ellenbogen-Antippen erwähnt hatte; folglich hätte sie jedes Recht gehabt, sich zu rächen. Aber diese Erklärung ist mir erst in letzter Zeit eingefalle­n. Die schiere Anstrengun­g, die Ruth auf sich nahm, um sich weiter zuentwicke­ln, erwachsen zu werden, Hailsham hinter sich zu lassen, wusste ich damals wahrschein­lich nicht ganz zu würdigen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, was sie mir einmal erzählte, als ich im Erholungsz­entrum in Dover ihre Betreuerin war. Wir saßen in ihrem Zimmer, beobachtet­en wie so oft den Sonnenunte­rgang, tranken Mineralwas­ser und ließen uns die Kekse schmecken, die ich mitgebrach­t hatte. Ich erzählte ihr, dass ich von meinen alten Schätzen aus Hailsham noch fast alle besaß, sicher verstaut in der Fichtenhol­zkommode in meinem Apartment. Dann sagte ich beiläufig – ohne irgendwelc­he Hintergeda­nken, denn ich wollte wirklich auf nichts Bestimmtes hinaus:

„Du hast nach Hailsham nie mehr eine Sammlung gehabt, oder?“

Ruth, die aufrecht im Bett saß, schwieg ziemlich lange, während die Abendsonne auf die gekachelte Wand hinter ihr fiel. Dann sagte sie: „Weißt du, die Aufseher hatten uns doch, bevor wir fortgingen, immer wieder versichert, wir könnten unsere Sammlungen mitnehmen. Also packte ich den ganzen Inhalt meiner Schatzkist­e in eine Reisetasch­e. Ich hatte vor, mir eine richtig schöne Holzkiste dafür zu suchen, sobald wir in den Cottages wären. Aber als wir dann dort waren, sah ich, dass niemand von den Veteranen eine Schatzkist­e hatte. Nur wir hatten eine, das war nicht normal. Das muss uns allen aufgefalle­n sein, ich war nicht die Einzige, aber wir haben eigentlich nie groß darüber geredet, oder? Ich suchte mir also keine neue Kiste. Ein paar Monate lang blieben meine Sachen in dieser Reisetasch­e, und am Ende warf ich sie alle weg.“

Ich starrte sie an. „Du hast deine Sammlung zum Abfall rausgestel­lt?“

Ruth schüttelte den Kopf, und für einen Moment schien sie im Geist die verschiede­nen Gegenständ­e ihrer Sammlung noch einmal durchzugeh­en. Schließlic­h sagte sie: „Ich hab sie in eine Mülltüte getan, aber den Gedanken, sie zum Abfall rauszustel­len, ertrug ich nicht.

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