Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (54)
NNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ach einer Weile erklärte Tommy, ich wüsste offensichtlich auch nicht besser Bescheid als er, also werde er jetzt den Weg bestimmen.
Zufällig – aber das war wirklich pures Glück – entdeckte er direkt vor uns eine Straße mit vier Läden von genau der Art, wie wir sie suchten, praktisch in einer Reihe hintereinander. Die Schaufenster waren voller Klamotten, Handtaschen, Kinderalmanache, und wenn man eintrat, roch es ein wenig süßlich und muffig. Vor uns stapelten sich Taschenbücher mit Eselsohren und staubige Schachteln mit Postkarten und wertlosem Schmuck. Ein Laden hatte sich auf Hippie-Sachen spezialisiert, während ein anderer Militärorden und Fotos von Soldaten in der Wüste anbot. Aber in allen standen jeweils irgendwo ein oder zwei große Kartons mit LPs und Musikkassetten. Wir stöberten in diesen Läden herum, und ich muss ehrlich zugeben, dass wir schon nach den ersten paar Minuten
gar nicht mehr an Judy Bridgewater dachten. Wir genossen es einfach, uns gemeinsam diese Schätze anzusehen, gelegentlich getrennte Wege zu gehen und uns dann nebeneinander wiederzufinden, vielleicht als Rivalen im Kampf um eine Schachtel mit Nippsachen in einer staubigen Ecke, in die ein Strahl Sonnenlicht fiel.
Und dann fand ich sie natürlich. Ich hatte eine Reihe Kassetten durchgesehen, war in Gedanken ganz woanders, als sie auf einmal unter meinen Fingern auftauchte und genauso aussah wie vor vielen Jahren: Judy, ihre Zigarette, ihr koketter Blick zum Barkeeper, die verschwommenen Palmen im Hintergrund.
Ich schrie nicht laut auf wie zuvor bei anderen Sachen, die mich mehr oder weniger fasziniert hatten. Ich stand reglos da, blickte auf das Plastikgehäuse und wusste nicht recht, ob ich entzückt sein sollte oder nicht. Einen Moment lang kam es mir beinahe wie ein Irrtum vor. Die Kassette war der perfekte Vorwand für unser Vergnügen gewesen, und nachdem sie jetzt tatsächlich aufgetaucht war, mussten wir es wohl abbrechen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich – zu meiner eigenen Verwunderung – zuerst keinen Ton herausbrachte; warum ich sogar daran dachte, so zu tun, als hätte ich sie nicht bemerkt. Jetzt, da sie vor mir lag, war etwas unbestimmt Peinliches an der Kassette, als müsste ich längst über sie hinaus gewachsen sein. Ja, ich kippte sie sogar nach vorn und ließ die nächste in der Reihe darauf fallen. Aber da war immer noch der Rücken des Gehäuses und blickte zu mir herauf, und schließlich rief ich Tommy herbei.
„Ist sie das?“Er schien wirklich Zweifel zu haben, vielleicht weil ich nicht mehr Aufhebens davon machte. Ich zog das Gehäuse heraus und hielt es in beiden Händen. Und auf einmal überkam mich eine riesige Freude – und noch etwas anderes, Komplizierteres, so dass ich fürchtete, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Aber ich bekam die Gefühlsaufwallung wieder in Griff und zupfte bloß an Tommys Arm.
„Ja, das ist sie“, sagte ich, und jetzt endlich konnte ich richtig lächeln. „Ist das nicht unglaublich? Stell dir vor, wir haben sie gefunden!“
„Könnte es wohl dieselbe sein? Ich meine, dieselbe, die du verloren hast?“
Während ich sie in den Händen hin und her drehte, stellte ich fest, dass ich mich an alle Details erinnerte, die Gestaltung der Rückseite, die einzelnen Titel, alles.
„So weit ich weiß, ja“, sagte ich. „Aber lass mich dir sagen, Tommy, es könnten Tausende davon existieren.“
Jetzt musste ich meinerseits feststellen, dass Tommy den Triumph nicht annähernd so auskostete, wie zu erwarten gewesen wäre.
„Tommy, du freust dich ja gar nicht für mich“, sagte ich, allerdings in unmissverständlich scherzendem Ton.
„Doch, ich freu mich schon, Kath. Ich hätte sie nur halt gern selber gefunden.“Dann lachte er kurz und fuhr fort: „Damals, als du sie verloren hast, hab ich mir insgeheim immer vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ich sie finden und dir bringen würde. Was du sagen, was für ein Gesicht du machen würdest, das alles.“
Sein Ton war weicher als sonst, und er wandte die Augen nicht von dem Plastikgehäuse in meiner Hand. Und mir wurde auf einmal sehr deutlich bewusst, dass wir die Einzigen hier waren – bis auf den alten Mann hinter dem Ladentisch am Eingang, der in seinen Papierkram vertieft war. Wir standen im hinteren Teil des Geschäfts auf einem Podest, das so düster und abgeschieden war, als hätte der alte Mann es mit einem imaginären Vorhang abgetrennt, weil er keine Lust hatte, sich mit dem Zeug in dieser Ecke zu befassen. Sekundenlang war Tommy wie in Trance – sicher ging er in Gedanken noch einmal eine seiner alten Phantasien durch, wie er mir meine verschwundene Kassette zurückbrachte. Dann riss er mir plötzlich das Plastikgehäuse aus der Hand.
„Aber zumindest kann ich sie dir kaufen“, sagte er grinsend, und bevor ich ihn aufhalten konnte, eilte er schon von dem Podest herunter zur Ladentheke.
Während der alte Mann nach der Kassette suchte, die zu dem Gehäuse gehörte, stöberte ich noch eine Weile im hinteren Teil des Ladens herum. Ich empfand immer noch ein leises Bedauern, dass wir sie so rasch gefunden hatten, und erst später, als wir wieder in den Cottages waren und ich allein in meinem Zimmer saß, freute ich mich richtig, dass ich sie wiederhatte, meine Kassette – und dieses Lied. Schon damals war es vor allem Nostalgie gewesen, und heute, wenn ich zufällig mal die Kassette hervorhole und mir ansehe, weckt sie genauso viele Erinnerungen an jenen Nachmittag in Norfolk wie an unsere Zeit in Hailsham. Als wir aus dem Laden traten, hätte ich mich gern wieder der sorglosen, beinahe kindischen Stimmung überlassen, in der wir zuvor gewesen waren. Aber Tommy war so tief in Gedanken versunken, dass er auf meine kleinen Scherze gar nicht reagierte.
Wir gingen einen steilen Fußweg hinauf und sahen, vielleicht hundert Meter vor uns, eine Art Aussichtskanzel direkt am Rand der Steilküste, auf der mehrere Bänke mit Blick auf das Meer standen. Im Sommer wäre es ein schöner Platz für eine Familie zum Sitzen und Picknicken gewesen. Es zog auch uns dort hinauf, trotz des eisigen Winds, aber als wir noch ein ganzes Stück vom Aussichtspunkt entfernt waren, wurde Tommy auf einmal sehr langsam und sagte:
„Chrissie und Rodney sind wirklich besessen von dieser Idee. Du weißt schon – dass manche einen Aufschub erhalten, wenn sie sich wirklich lieben. Sie sind überzeugt, wir wüssten bestens Bescheid, aber in Hailsham war doch nie die Rede davon. Zumindest hab ich nie irgendwas in der Art gehört – du, Kath? Nein, es ist einfach ein Gerücht, das seit einiger Zeit unter den Veteranen umgeht. Und Leute wie Ruth haben es noch geschürt.“