„Ich bin nicht der einzige Alkoholiker“
In Bad Wörishofen will eine neu gegründete Selbsthilfegruppe Wege aus der Sucht aufzeigen. Betroffene und Angehörige können hier in einem geschützten Umfeld Erfahrungen austauschen
Bad Wörishofen Klar, er war fast jeden Tag betrunken. Und klar, er dachte natürlich, dass das keiner merkt. Heute weiß Martin Vögele: Natürlich hat das jeder bemerkt, der mit ihm zu tun hatte. Nur er selbst, er wollte das einfach nicht wahrhaben – bis er an einen Punkt kam, an dem er erkennen musste: Ja, ich bin Alkoholiker. Und ich muss diese Krankheit besiegen, wenn sie nicht mich besiegen soll.
Heute ist Martin Vögele „trocken“– aber Alkoholiker ist er noch immer. Er weiß, auch aus eigener, bitterer Erfahrung: Das Risiko, rückfällig zu werden, ist allgegenwärtig. Rückfälle sind bei Alkoholikern nicht selten, und jeder Rückfall zieht den betroffenen Trinker noch tiefer in die Sucht.
Erst als Martin Vögele (50) bereit war, sich seiner Sucht zu stellen, seine Alkoholabhängigkeit auch als Krankheit zu erkennen und anzunehmen – erst seit dieser Zeit hat er wieder Lebensmut und blickt positiv auf seine Zukunft, die über viele Jahre hinweg ausweglos und sinnlos erschien.
Und erst als sich Martin Vögele einer Selbsthilfegruppe des „Blauen Kreuzes“anschloss, schaffte er selbst den wichtigsten, entscheidenden Schritt: Seine Gefühle, seine Selbstzweifel und seine Unsicherheit nicht mehr im Suff zu ertränken, sondern sich dagegen zu stemmen. Heute führt er ein gutes Leben. Ein suchtfreies Leben, ein Leben ohne Alkohol.
Als trockener Alkoholiker weiß er, wie wichtig der ehrliche Erfahrungsaustausch in einer Selbsthilfegruppe ist – und diese Chance will er jetzt auch anderen Suchtkranken bieten. Martin Vögele hat daher eine Selbsthilfegruppe gegründet, die sich einmal in der Woche immer montags um 19.30 Uhr trifft. Das erste Treffen findet am Montag, 22. Januar, statt, Treffpunkt ist die „Schokolounge“von Martin Vögele in der Schmiedstraße 2.
Er wird dabei von Sion Huith (54) unterstützt, der wie Vögele auch eine lange und harte Lebensgeschichte als Alkoholiker hat. Seit gut zehn Jahren ist der Memminger inzwischen trocken, zuvor ging er aber buchstäblich durch die „Hölle“– eine Hölle, die für viele Alkoholiker und andere Suchtkranke fast schon beispielhaft ist. Einst erfolgreicher Geschäftsmann, großes Haus, glückliche Familie. All das hat seine Sucht zerstört, am Ende lebte der 54-Jährige tatsächlich als Obdachloser unter einer Brücke – völlig mittellos und fast am Ende.
Gerade noch rechtzeitig wurde bei ihm eine schwere lebensbedrohende Lebererkrankung diagnosti- natürlich auch eine Folge seiner jahrelangen Alkoholsucht. Vier Flaschen Wein habe er über den Tag verteilt getrunken. „Und abends dann weiter Vollgas ...“Und klar, auch er habe immer geglaubt, dass seine Umgebung von seiner Trinkerei gar nichts mitbekommt. „Alkohol zu trinken ist so leicht in unserer Gesellschaft, es gehört in jeder Lebenslage ganz selbstverständlich dazu“, sagt Sion Huith, und er sagt dies ruhig und selbstsicher, ganz ohne Selbstmitleid.
Im Gegenteil: Er habe es nicht bemerkt, dass er längst alkoholabhängig war – und er hatte es auch gar nicht bemerken wollen. Erst als er fast alles verloren hatte, schaffte er doch noch den Absprung, schöpfte in und dank der Selbsthilfegruppe neuen Mut und führt heute ein glückliches, ein besseres Leben: ein Leben ohne Alkohol. In einer Selbsthilfegruppe gehe es keineswegs darum, sich gegenseitig zu bedauern, zu bemitleiden oder seine eigenen Fehler zu rechtfertigen. Genau das, so Martin Vögele und Sion Huith unisono, haben sie als Alkoholiker viel zu lange gemacht: fadenscheinige Ausreden gesucht (und gefunden), sich versteckt und sich selbst bemitleidet. Als Alkoholiker, da waren sie ja auch regelrecht „Meister“der Verschleierung und der Logistik: Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren und die Spuren zu beseitigen – darin waren sie unschlagbar.
Heute stellen sie sich ihrer Sucht und sie wissen genau: Nur eine klare – und buchstäblich nüchterne – Bestandsaufnahme und Selbsterkenntnis hilft, einen nachhaltigen Weg aus der Sucht zu finden. Eine Selbsthilziert, fegruppe kann da richtig sein, denn eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, mit dieser alles zerfressenden Sucht ganz und gar nicht alleine dazustehen: „Plötzlich habe ich erkannt: Ich bin nicht der einzige Alkoholiker“, erinnert sich Martin Vögele. Das helfe nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch ihren Angehörigen – Ehepartner, Kinder, Eltern, Freunde oder Kollegen. Sie alle sind wichtige Partner und Helfer, um sich aus einer Sucht befreien zu können – wenn man es selber denn auch wirklich will. Daher sind in der neuen Selbsthilfegruppe des „Blauen Kreuzes“in Bad Wörishofen ausdrücklich auch Angehörige willkommen.
Damit das Angebot so niederschwellig wie nur möglich ist, können sich Interessierte auch telefonisch oder per E-Mail vorab informieren – oder eben direkt und unverbindlich vorbeikommen, wenn sich die Gruppe immer montags in der „Schokolounge“trifft. Um es leichter zu machen, werden auch die Schaufenster eigens verhüllt, um die Anwesenden vor neugierigen Blicken zu schützen. Allerdings nicht, nicht, um die eigene Sucht (wieder einmal) zu verstecken, sondern alleine, um es Betroffenen zu erleichtern, das Angebot kennenzulernen.
Und nur, wer diesen ersten Schritt macht, wer sich traut und sich seiner Sucht stellt, kann den Weg in ein glückliches und selbstbestimmtes Leben finden, wissen Martin Vögele und Sion Huith nur allzu gut: „Wenn wir das nicht gemacht hätten, dann wären wir heute vielleicht schon tot.“
OTermine und Kontakt Am Samstag, 20. Januar, ab 15 Uhr eröffnet das „Blaue Kreuz“Memmingen offiziell die neue Gruppe in Bad Wörishofen. Im Pfarrzentrum St. Ulrich (Gartenstadt) sind zahlreiche Suchtberater und Mitglieder der Selbsthilfegruppe vor Ort und stehen Betroffenen mit Rat und Tat zu Seite. Die Selbsthilfegruppe trifft sich dann im mer montags um 19.30 Uhr in der „Schokolounge“. Martin Vögele ist unter der Telefonnummer 0170/2801923 sowie per E Mail an martin.voege le@schokolounge.com erreichbar. Wei tere Informationen gibt es unter www.blaues kreuz.de/memmingen
„Wenn wir das nicht gemacht hätten, wären wir heute vielleicht schon tot.“
Martin Vögele und Sion Huith über ihre Entscheidung, eine Selbsthilfegruppe für suchtkranke Menschen zu besuchen